Manifest für ein demokratisches Europa

Ein ökologisches, soziales, zukunftsfähiges und menschenfreundliches Europa kann nur auf dem Weg verbesserter Demokratie erreicht werden und nicht über den Abbau von Demokratie.

Angesichts der Krise der Europäischen Union nach dem Nein Irlands zum Vertrag von Lissabon fordern wir alle Beteiligten zu einer sachlichen und respektvollen öffentlichen Diskussion auf. Ein Ausweg aus der gegenwärtigen Krise kann nur durch Stärkung der demokratischen Kultur gefunden werden. Die Unterdrückung der kritischen Öffentlichkeit vertieft nur die Krise. Dieses Manifest versteht sich als Beitrag zu einer demokratischen Diskussion und bietet konkrete Lösungen an.

•Respekt vor der demokratischen Kultur Irlands

Die Volksabstimmung in Irland ist Ausdruck demokratischer Kultur. Das schätzen wir.

Wir respektieren die Willensentscheidung der irischen Bevölkerung über den Vertrag von Lissabon. Sie ist der Souverän und verdient Respekt für ihre legitime Willensäußerung, wie jeder Souverän.

Wir weisen jeden Versuch zurück, diese demokratische Entscheidung des einzig befragten Souveräns zu diffamieren, zu ignorieren oder mit Abstimmungswiederholungen zu annullieren.

Wir kritisieren insbesondere die Herabwürdigung der irischen Bevölkerung dafür, dass sie ihr Recht auf Selbstbestimmung ausgeübt hat, das den anderen 26 Bevölkerungen verwehrt wurde.

Die jüngsten Umfragen (Eurobarometer) bezeugen, dass die Irinnen und Iren zu den europafreundlichsten Bevölkerungen zählen. Mehrheitlich abgelehnt wurde nicht die Mitgliedschaft zur EU, sondern deren Fehlentwicklungen, die im Vertrag von Lissabon zum Ausdruck kommen.

•Sofortiger Ratifikationsstopp
Wir rufen in Erinnerung, dass schon der Plan A der Regierungen, der EU eine „Verfassung“ zu verleihen, 2005 klar am französischen und holländischen Souverän gescheitert ist.

Plan B der Regierungen war, den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vertrag als „EU-Reformvertrag“ gegen den Willen von Mehrheiten ohne Volksabstimmungen durchzusetzen. Diese Strategie ist nun am einzigen Souverän, der abstimmen durfte, ebenfalls gescheitert. (In Österreich verstößt nach Auffassung der Unterzeichnenden die Ratifikation des Vertrages von Lissabon ohne Volksabstimmung gegen Art. 44 Abs. 3 des Bundes-Verfassungsgesetzes, das im Falle einer Gesamtänderung der Verfassung eine Volksabstimmung zwingend vorschreibt. Grundsätzlich ist in einer Demokratie in fundamentalen Entscheidungen der Souverän die letzte Instanz.).

Plan C prominenter EU-Politiker scheint nun zu sein, unbeirrt weiterzumachen. Das wäre nicht nur eine weitere Missachtung der Demokratie, sondern auch ein klarer Rechtsbruch. Der Vertrag von Lissabon besagt selbst, dass er nur in Kraft treten kann, sofern Ratifikationsurkunden von allen Mitgliedstaaten hinterlegt worden sind. Das ist nach dem Nein der Iren nicht mehr möglich. Daher sind jegliche Versuche, den Vertrag von Lissabon trotz des irischen Votums in Kraft zu setzen, schon im Ansatz abzulehnen.

•Mehr Demokratie in der Europäischen Union

Die Reaktionen der Regierungen sind der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die vielen Menschen in der Union wachsendes Unbehagen bereitet: Die Regierenden vertreten in abnehmendem Maße die Interessen der Bevölkerung und immer mehr die Interessen einflussreicher Gruppen.

Die nicht demokratisch legitimierten EU-Institutionen dehnen die Kompetenzen der EU immer weiter aus und entziehen gleichzeitig den Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf demokratische Mitgestaltung.

Insbesondere der radikale Vorrang der so genannten „Vier Grundfreiheiten“ vor sozialen, ökologischen und demokratischen Rechten; die Förderung von Gentechnik und Atomenergie sowie die im Vertrag von Lissabon festgeschriebene Aufrüstungsverpflichtung entsprechen in vielen Mitgliedsländern nicht dem Mehrheitswillen.

Ein Vertrag für 27 Länder mit ihren unterschiedlichen Geschichten, Traditionen, Kulturen, geografischen Gegebenheiten und Rechtssystemen ist ohne strenge Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zum Scheitern verurteilt.

•Lösungsvorschläge

Die Ablehnung des Vertrags seitens der irischen Bevölkerung eröffnet die Chance eines demokratischen Ansatzes mit breiter Beteiligung und intensiver öffentlicher Diskussion über die Zukunft der EU.

Ein Nachfolgevertrag für den Vertrag von Nizza darf nur für Bevölkerungen gelten, die ihm nach einer ausführlichen öffentlichen, chancengleichen Erörterung aller Für und Wider direkt demokratisch zustimmen.

Ein gesamteuropäisches Referendum mit Mehrheitsentscheid ist keine Lösung, weil erstens keine Bevölkerung Europas bei einer derartig fundamentalen Entscheidung wie der Einschränkung der Souveränität überstimmt werden darf und weil es zweitens keinen gesamteuropäischen Staat und keine gesamteuropäische Öffentlichkeit gibt.

Die Anzahl der zustimmenden Souveräne würde steigen und könnte alle 27 der Europäischen Union umfassen, wenn der Nachfolgevertrag im Rahmen eines direktdemokratischen Prozesses von einer durch demokratische Wahlen legitimierten gesamteuropäischen Versammlung ausgearbeitet würde.

Ein wünschenswertes Ergebnis dieser Versammlung wäre, dass soziale, ökologische und demokratische Rechte Vorrang vor Wirtschaftsfreiheiten erhielten, wobei einzelne Länder als Vorreiter höhere soziale und ökologische Standards durchsetzen könnten.

Der Staat und die Parteien werden aufgefordert, eine wirklich freie Meinungs- und Willensbildung zuzulassen und zu fördern, auch hinsichtlich möglicher (wohlbegründeter, nicht bloß populistischer) EU-skeptischer Standpunkte.

Außerdem sollte die Übertragung von Souveränitätsrechten an die EU jederzeit durch Referenden in den Mitgliedstaaten revidiert werden können.

Ein ökologisches, soziales, zukunftsfähiges und menschenfreundliches Europa kann nur auf dem Weg verbesserter Demokratie erreicht werden und nicht über den Abbau von Demokratie.

DIE UNTERZEICHNER

Das „Manifest für ein demokratisches Europa“ wurde von einer Gruppe kritischer Wissenschaftler verfasst und wird von folgenden Personen unterstützt:

Hans Peter Aubauer, Physiker, Uni Wien
Peter Bachmaier,
Osteuropaexperte, WienErwin Bader, Philosoph, Uni Wien
Heinz Barta,
Jurist, Uni Innsbruck
Christian Felber,
Attac, WU Wien
Alfred Haiger,
Agrarökonom, Boku Wien
Max Haller,
Soziologe, Uni Graz
Adrian Hollaender,
Jurist, Uni Wien, Uni Klausenburg, IU Vienna
Gerhard Jagschitz,
Historiker, Uni Wien
Hans Köchler,
Philosoph, Uni Innsbruck
Hermann Knoflacher, Verkehrsplaner, TU Wien
Hans Kohlmaier, Zentralbetriebsratsvorsitzender
Wolfgang Kromp,
Risikoforscher, Uni Wien
Helga Kromp-Kolb,
Meteorologin, Boku Wien
Peter Moeschl,
Arzt, MedUni Wien
Anton Moser,
Biotechnologe, TU Graz
Heinrich Noller,
Physikochemiker, TU Wien
Andreas Novy,
Regionalökonom, WU Wien
Petra Seibert,
Meteorologin, Boku Wien
Raimund Sobotka,
Sportpädagoge, Uni Wien
Bernhard Ungericht,
Betriebswirt, Uni Graz
Claudia v. Werlhof,
Politologin, Uni Innsbruck
Peter Weish,
Humanökologe, Uni Wien
Ernst Florian Winter,
Politologe, Dipl. Akad. Wien/Pristina
Heinrich Wohlmeyer,Agrar- und Umweltökonom, Boku Wien

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2008)

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