Der sehr dünne Boden

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„Wahrscheinlich ein Herzinfarkt.“ Der Mann von 60 Jahren: eine sehr private, sehr gewöhnliche Geschichte.

Dienstag, 20. April 2006, 10 Uhr 15, Kulturdirektion der oberösterreichischen Landesregierung, Filmbeiratssitzung. Einer hat abgesagt, aber Peter Willnauer und Gottfried Hattinger sind da, also sind wir beschlussfähig. Anneliese Geyer lässt auf sich warten, dann kommt sie endlich, sie sieht ein wenig verquollen aus. Wir kennen uns lange, gewöhnlich umarmen wir uns zur Begrüßung, diesmal rät sie uns aber, sich fernzuhalten von ihr, sie sei krank, habe eigentlich gar nicht zum Dienst erscheinen wollen. Sie sei gestern erst aus Skandinavien zurückgekommen, habe sich auf einem Flugplatz ganz entsetzlich erkältet. Ich nähere mich ihr nicht einmal auf Armlänge, winke ihr nur zu. Mein erster Chemotherapie-Termin ist gerade vier Tage vorbei, Dr. Graf hat mir gesagt, meine Immunabwehr sei in den ersten zehn Tagen stark herabgesetzt. Als ich Anneliese davon erzähle, beschließt sie, einfach wieder nach Hause zu fahren. Als Beamtin sei sie ohnehin nicht stimmberechtigt, und die Sitzung protokollieren, das könne ausnahmsweise einmal auch eine Sekretärin. Sie will das melden, kommt aber gleich wieder zurück, irgendwer im Haus ist der Meinung, sie müsse bleiben, zu Mittag nach der Sitzung könne sie ja gehen, wenn es denn sein müsse.

Also muss ich mich zurückziehen, ich will kein Risiko eingehen, das leicht zu vermeiden ist. Aber Anneliese beschließt, sie geht einfach, tut es auch. Die Sitzung findet statt. Gewöhnlich gehen wir nachher gemeinsam essen, Peter Willnauer hat heute aber einen Termin, also gehe ich mit Gottfried Hattinger allein ins Theaterrestaurant gleich nebenan. Es ist heiß, wir sitzen im Garten. Große quadratische Sonnenschirme sind aufgespannt, so dicht nebeneinander, dass darunter kein Lufthauch sich bewegen kann. Wirklich gut geht es mir nicht. Vielleicht hätten wir uns drinnen einen Tisch suchen sollen, aber wer tut das schon bei diesem Wetter. Ich sitze gern mit Gottfried zusammen, aber ich genieße es nicht wie sonst. Ich trage mein Mieder, fühle mich eingezwängt davon, es lässt mich noch mehr schwitzen. Vielleicht hätte ich den Termin verschieben lassen sollen, aber ich habe mich gestern noch ganz gut gefühlt. Vier Tage nach der Operation habe ich mit Kleibel und Hartinger ausführlich über mein neues Buch geredet, es hat mir nichts ausgemacht, nur ein bisschen schwächer als sonst habe ich mich gefühlt. Eine Woche später war ich in Wien, um an einer Gala teilzunehmen, die Julia veranstaltet hat, auch dort war es heiß, auch dort habe ich das Mieder getragen und dazu noch – weil der Verdauung immer noch nicht ganz zu trauen ist – eine Windel, was keiner bemerkt haben kann, weil mir alle Kleidungsstücke, vor allem auch die Hosen, jetzt ohnehin zu weit sind. Ich habe den Abend gut überstanden, also warum hätte ich an der heutigen Sitzung nicht teilnehmen sollen. Freilich war dazwischen die Chemotherapie. Die übelsten Nebenwirkungen, von denen man hört, sind mir zum Glück erspart geblieben. Ich fühle mich ganz gut – nur eben jetzt, hier im Gastgarten, nicht.

Tonja ruft mich an. Sie ist mit mir nach Linz gefahren, wollte mich noch nicht allein mit dem Auto fahren lassen. Sie hat nun, was sie erledigen wollte, erledigt, sie sitzt schon im Klosterhof-Garten, wo wir uns treffen wollen. Ich käme bald, sage ich, aber sie meint, ich solle mir Zeit lassen. Doch will ich ohnehin weg von hier.

Ich überlege, ob ich ein Taxi rufen soll. Es hat bestimmt 30 Grad, hier auf der Straße zwischen den Häusern wahrscheinlich noch mehr. Aber bis zum Klosterhof ist es kein Kilometer. Die Promenade hinunter, Taubenmarkt, das kleine Stückl Landstraße, schon bin ich da. Das werde ich ja wohl schaffen.
Gottfried hat fast den gleichen Weg. Wir gehen sehr langsam.

Auf halber Höhe der Promenade gelangt, wer will, in ein Einkaufszentrum, Arkade genannt, eine Art überbauter Ladenstraße. Sie führt hinüber zur Spittelwiese, von dort sind es dann nur mehr ein paar Schritte zum Klosterhof. Wenn ich diesen Weg nehme, erspare ich mir drei, vier Minuten.

Ich verabschiede mich von Gottfried. „Ich nehm die Abkürzung“, sage ich, „ich tu mir beim Hatschen noch ein bissel schwer.“ Ob er mich nicht begleiten solle, fragt Gottfried. „Aber nein! Ich geh einfach ganz langsam, dann passt das schon.“ Ob ich sicher bin? „Na, sicher bin ich sicher.“
Ich nehme mir vor: Ich gehe jetzt einmal zehn Schritte, dann bleibe ich, wenn es sein muss, für eine halbe Minute stehen, dann wieder zehn Schritte ... Eine Weile funktioniert das ganz gut. Dann bleibe ich schon nach dem achten Schritt stehen, dann nach dem fünften. Immer halte ich vor einer Auslage an, schaue hinein, als interessierte mich irgendwas da drin. Das ist einfach, die ganze Passage besteht ja nur aus Auslagen. Ich schwitze noch mehr als draußen auf der Straße. Kann sein, dass sich hier herinnen einfach die Hitze staut. Vielleicht liegt es aber auch an mir. Die Beine sind so schwer wie noch nie in meinem Leben. Die Waden schmerzen, die Oberschenkel auch. Drei Schritte wenigstens!

Ich kann geradesogut auch nach jedem dritten Schritt stehen bleiben. Und ich muss auch nicht so tun, als betrachtete ich, was da hinter all den Glasscheiben feilgeboten wird. Es interessiert niemanden, ob ich gehe oder stehe. Niemand beachtet mich, und falls mich jemand beachten, beobachten sollte, kann es mir herzlich wurscht sein. So bleibe ich stehen, wann und wo ich halt nicht mehr weiterkann. Ich merke: Ich schwanke ein wenig, wenn ich stehe. Auch gut, soll man mich für einen Besoffenen halten. Aber es beachtet, beobachtet mich ja niemand, ich beobachte mich nur selber. Um das Schwanken zu vermeiden, lehne ich mich an eine Betonsäule. Und eine Geschichte fällt mir ein, die mein lieber Freund Helmuth Gsöllpointner mir einmal erzählt hat: Ein Mann – blunzenfett, wie man so sagt – auf dem Heimweg. Den schafft er nur, indem er mit einer Hand an die Hauswände tappt, so tappt und tappt und tappt er dahin, bis er an eine Kreuzung kommt, und das eine Haus ist zu Ende, und seine Hand findet keine Mauer mehr, und er schreit empört: „Häuser her!“
Irgendwann stehe ich draußen auf der Spittelwiese. Noch 50, 70 Meter bis zu einem Café unten an der Landstraße. Ein paar Tische vor dem Lokal sind frei, dort könnte ich mich für eine Weile hinsetzen. Bis dorthin– ich weiß nicht, warum ich das glaube – muss ich es schaffen, ohne stehenzubleiben. Ich gehe los und gehe und gehe, und auf halbem Weg bin ich überzeugt, ich werde beim nächsten, spätestens beim übernächsten Schritt einfach umfallen. Es ist mir jetzt egal. Irgendwer wird sich dann kümmern um mich. Aber schließlich sitze ich. Das habe ich geschafft. Wenn ein Kellner kommt, werde ich sagen ... Aber so lange – ich weiß nicht, wie lange – ich sitze, kommt kein Kellner.
Ewig kann und will ich hier nicht bleiben, also muss ich weiter. Später einmal fällt mir ein, ich hätte – für sowas sind die Mobiltelefone eigentlich wirklich praktisch – Tonja anrufen können, ihr sagen: Mir geht's nicht so gut, ich komm nicht in den Klosterhof, fahren wir doch gleich nach Hause. Das Parkhaus, in dem das Auto steht, liegt in meinem Blickfeld. Alles wäre ganz einfach, aber ich denke nicht ans Handy, nur daran, wie ich die paar Meter zum Klosterhof noch schaffen kann.

Als erstes muss ich aufstehen, das ist nicht leicht, aber ich schaffe es. Hundert Meter noch, höchstens. Ein Schritt und noch einer und noch einer ... Immer kleiner werden sie jetzt, Viertelmeterschritte dürften das sein. Ich torkle mehr als dass ich ginge. Wieder die Angst hinzufallen. Ich fürchte mich davor und wünsche es mir zugleich: Wenn ich erst einmal liege, muss ich nicht mehr gehen. Ich kann nicht mehr gehen. Vor dem Klosterhof wieder ein paar Tische und Stühle. Einen Stuhl erreiche ich, jetzt sitze ich und bin nur verblüfft darüber, wie unendlich kraftlos ein Mensch sein kann.
Aber die kurze letzte Etappe schaff ich auch noch! Tonja anzurufen fällt mir (das wundert mich später sehr) auch jetzt nicht ein, also muss ich wieder aufstehen. Hinein ins Haus, nach hinten in den schönen Biergarten! Scheiße, Tonja sitzt, sehe ich, ganz hinten! Ich will die Strecke so aufrecht wie möglich hinter mich bringen, nicht torkeln, nicht schwanken, Tonja soll sich keine unnötigen Sorgen machen. Ein Schritt, noch einer ... So schlecht geht das jetzt gar nicht. Dann sitze ich wieder.
„Alles in Ordnung?“, fragt Tonja.
„Alles in Ordnung“, sage ich. Natürlich sieht Tonja mir an, dass nichts in Ordnung ist. Also sage ich: „Ich hab mich ein bissel überschätzt.“

Tonja weist darauf hin, dass die Operation erst vor vier Wochen war und die Chemotherapie-Sitzung erst vor vier Tagen, und sie weist auf die Hitze hin und will wissen, warum ich mir denn kein Taxi habe rufen lassen. – Ja, das ist eine gute Frage.

Ein Kellner kommt an den Tisch. Zum ersten Mal in meinem Leben bestelle ich mir im Klosterhofgarten kein Bier, sondern Mineralwasser. Das habe ich geschafft! denke ich, als könnte mir jetzt nichts mehr geschehen. Was soll mir schon geschehen, wenn Tonja daneben sitzt?

Hundeelend ist mir. Ich muss nicht aufs Klo, aber – es sind nur ein paar Schritte, die gelingen mir nun leicht – ich gehe aufs Klo. Was ich mir davon erwarte, erhoffe, weiß ich nicht. Ich sitze auf der Muschel und bin erschöpft. Das zu denken hilft mir ein wenig. Wenigstens hoffe ich es. Wenn ich erschöpft bin, dann werde ich mich von der Erschöpfung auch wieder erholen. Ich muss nur noch eine Weile hier sitzen. Im Augenblick könnte ich gar nichts anderes als sitzen. Ich könnte, glaube ich, jetzt nicht einmal den Arm heben und einen Finger bewegen. Ich versuche es gar nicht. Ich verharre bewegungslos und meine auf einmal zu wissen, dass ich jetzt sterben werde. Ich habe keine Schmerzen, nur ist kein Funken Kraft mehr in mir. Ja, ich werde jetzt sterben. Mir ist's recht, wenn es nur schnell geht.

Dann einmal eine männliche Stimme von draußen: „Herr Wippersberg?“
„Ja.“
„Ich bin der Kellner. Ihre Frau macht sich Sorgen. Geht's Ihnen gut?“
„Jaja. Ich komm gleich.“
Ich verschiebe das Sterben. Nein, es wäre mir durchaus nicht recht, wenn es jetzt geschähe. Und ich werde auch nicht sterben, nicht jetzt, nicht hier auf dem Klosterhof-Klo. Ein klein wenig besser fühle ich mich ja schon wieder. Wirklich? Doch! Ein simpler Schwächeanfall war das, vielleicht ein Art Hitzschlag oder ein Kreislaufkollaps. Ich kann mir unter all dem nicht viel vorstellen, ich kenne die Symptome nicht.
Irgendetwas muss ich tun. Ich könnte mir draußen im Vorraum kaltes Wasser über die Handgelenke laufen lassen, mir das Gesicht kalt waschen ...

Ich richte mich auf – und siehe da: Es geht. Ich ziehe die Hosen hinauf, schließe den Gürtel, gehe hinaus, trete ans Waschbecken, und in dem Augenblick, da das kalte Wasser meine Hände trifft, öffnet sich der Schließmuskel, und ich scheiße mich an. Bis aufs Kreuz, wie man so sagt.

So ziehe ich mich denn wieder in die Kabine zurück. Was jetzt? Egal. Etwas wird geschehen, ich warte es ab, ich werd's schon sehen.

Dann auf einmal Tonjas Stimme. Sie hat nicht wieder den Kellner schicken wollen, sondern ist selbst aufs Herrenklo gekommen, um nach mir zu sehen. Ich berichte durch die geschlossene Tür, was passiert ist, und bitte sie, eine Hose und eine Unterhose für mich kaufen zu gehen.
Dann warte ich wieder. Aus den Hosen habe ich mich vorher schon herausgewurschtelt, jetzt fang ich an, meinen Arsch und meine Oberschenkel zu säubern. Das ist – meine Bewegungen sind immer noch langsam – recht mühsam und braucht seine Zeit. Papier gibt es zum Glück genug. Ich erhole mich wieder, ich rede es mir ein. Was immer das war und noch ist, es geht vorüber. Hoffentlich.

Dann, vielleicht nach einer halben Stunde bringt Tonja einen Plastiksack mit einer neuen Hose und einer neuen Unterhose. Den Sack kann ich brauchen, um das angeschissene Zeug zu entsorgen.
Endlich wieder draußen: „Jaja, es geht mir schon viel besser.“ Natürlich glaubt Tonja mir das nicht, sie will einen Arzt rufen. Aber was würde der tun? Der würde mich ins Krankenhaus schicken. Dort gehöre ich, meint Tonja, auch hin. Ich weigere mich. Nein, ich will nicht schon wieder ins Spital, schon gar nicht hier in Linz. Wenn ich ein bisschen liegen könnte, würde es mir bald wieder gut gehen. Ich brauche nur noch ein bisschen Ruhe.

Tonja zieht den Kellner zu Rate. Der Biergarten wird nach hinten von einer Art Veranda abgeschlossen, dort läuft eine Bank die ganze Wand entlang, dort kann ich mich hinlegen, und dort liege ich dann halt. Aber irgendwas muss geschehen. Es geht mir besser, ja, doch, aber es geht mir nicht gut. Zum Parkhaus – nur schräg über die Landstraße – ist es nicht weit, aber zu weit für mich.

Die Landstraße ist Fußgängerzone, aber es gibt vom Garten einen Ausgang zur Bischofstraße, dort könnte ein Taxi stehenbleiben, und von dort wird es ja wohl auf irgendwelchen Umwegen zum Eingang des Parkhauses kommen. Tonja ruft also ein Taxi. Als der Fahrer mich sieht, will er den Auftrag nicht annehmen. Offenbar fürchtet er, ich könnte ihm den Wagen vollkotzen. Oder was weiß ich, was er fürchtet. Er rät uns, die Rettung zu rufen. Wir können ihn schließlich überreden, uns doch zu fahren.

Die Zeit ist, seit die Plackerei des Gehens vorüber ist, grotesk zerdehnt, beinahe zum Stillstand gekommen. Mir ist, als hätte ich viele Stunden bewegungslos auf dem Klo zugebracht, als wäre ich stundenlang auf der Bank gelegen, aber es ist erst halb vier. Mein Denken ist fast stehen geblieben, damit auch die Zeit. Wo keine Gedanken mehr sind, ist auch keine Zeit. Ich sitze jetzt im Taxi, und das steht bei der Ausfahrt des Parkhauses. Tonja ist mit dem Lift hinaufgefahren, das Auto zu holen. Ich sitze und warte und weiß nicht, wie lange.

Dann fahren wir – offenbar hat man mich umgeladen – stadtauswärts. Ich sitze neben Tonja und stelle mir die Rückenlehne des Sitzes weit nach hinten, so liege ich nun fast. Im eigenen Auto fühle ich mich auf einmal sicher. Die Zeit läuft jetzt wieder, langsam noch, aber sie läuft und vergeht. Alles mögliche könnte natürlich auch jetzt noch geschehen, aber nichts wird geschehen. Ich hab's überstanden. Bald bin ich zu Hause, ich werde mich hinlegen, und morgen geht es mir dann wieder gut. „Alles in Ordnung?“ fragt Tonja ein paarmal. Ja, alles in Ordnung. Mir geht's schon wieder gut, jedenfalls ziemlich gut.
Ein kleiner Schmerz unterm Brustbein ist da, ich warte darauf, dass er wieder verschwindet, aber er bleibt. Ich zögere, Tonja etwas davon zu sagen, ich weiß, was sie denken wird, ich denke es ja selber auch. Schließlich sage ich es doch, und Tonja meint, bis Steyr dauere es nun nur mehr eine gute Viertelstunde, so lange müsse ich durchhalten.
„Wieso Steyr? Wir fahren nach Losenstein.“
„Nein, nach Steyr. Ins Krankenhaus.“ Tonja würde sich, sagt sie, das nie verzeihen, brächte sie mich jetzt nicht in Krankenhaus. Sie hat – ich weiß nicht, wann – mit Dr. Graf telefoniert, meine Einlieferung angekündigt. Man erwartet mich.

(Sie müsse mich um jeden Preis lebend ins Krankenhaus bringen, nur daran habe sie gedacht, erzählt Tonja mir später. Sie hat in diesem Jahr schon ihre Mutter begraben, und eine Beerdigung im Jahr sei genug!)
Sie findet einen Parkplatz, von dem aus es nicht weit ist bis zur Notaufnahme. Sie will einen Rollstuhl für mich organisieren. Aber wozu? Das Stückl kann ich schon gehen. Ich steige aus und gehe. Nicht mühelos zwar, aber ich gehe. Na also, ich gehe, es geht schon wieder.

Wir müssen warten. Dann schiebt ein Zivildiener einen Rollstuhl heraus, darin ein 40-, vielleicht auch schon 50-jähriger Mann sitzt. Ein bisschen verkommen sieht er aus, im Gesicht ein paar kleine Blessuren. Ein Obdachloser vermutlich. Der Aufnahmearzt redet auf ihn ein: Nein, er könne nichts für ihn tun, er könne ihn nicht aufnehmen. „Und Sie können ruhig aufstehen und gehen, Sie brauchen keinen Rollstuhl.“

Der käme, sagt der Arzt, als wir eintreten, einmal in der Woche. Er wünsche sich nichts sehnlicher, als stationär aufgenommen zu werden, um hier verpflegt und umsorgt zu werden, aber er sei, Pech für ihn, kerngesund. Er habe sich sogar selbst schon gröbere Verletzungen zugefügt, nur damit er ein paar Tage hier verbringen durfte.
Ich bin an der Reihe. Ein EKG zuerst. Die Prozedur kenne ich längt, ich gehe also zur Liege, neben der die Apparate stehen, lege mich hin, lasse mich verkabeln. Aufstehen lässt man mich dann nicht mehr. Ich sehe am Blick der Schwester, dass das Diagramm, das der Drucker ausspuckt, nichts Gutes verheißt.
Der Blick gilt dem Arzt, vor dessen Schreibtisch Tonja sitzt. Er hat ihn offenbar verstanden, jetzt telefoniert er. Dann schieben zwei Männer ein Krankenbett herein, legen mich drauf. Ich lasse es geschehen, obwohl ich überzeugt bin, dass ich mich gut auch selber hineinlegen könnte. Der Arzt hängt eine Infusionsflasche an die Stange am Kopfende des Bettes, legt einen Venflon, zapft mir Blut ab, schließt den Infusionsschlauch an.
Was ist eigentlich los?
„Wahrscheinlich ein Herzinfarkt“, sagt der Arzt.
Sie bringen mich hinaus. Sehr rasch bewegen sie sich und mich durch ober- und unterirdische Gänge. Fast rennen sie. Wohin? – Auf die Intensivstation.
In meinen Ohren klingt das – „Emergency-room“-Assoziationen stellen sich ein – nach einem Kampf auf Leben und Tod. Vor zehn Minuten bin ich noch auf meinen eigenen Füßen gestanden, einhergeschritten wie ein junger Gott ... Naja, das grad nicht, aber immerhin bin ich selber gegangen. Und jetzt karrt man mich forcierten Schrittes auf die Intensivstation? Man beruhigt mich, man müsse jetzt alles an mir ganz genau überwachen, das könne man nur auf der Intensivstation, kein Grund zur Besorgnis. Gern würde ich das glauben, aber es gelingt mir nicht. Der beruhigende Tonfall macht mir Angst. So viel Erfahrung habe ich nun schon: Wenn es gar so harmlos klingen soll, dann ist es wirklich ernst.

Das Zimmer, in das man mich bringt, wirkt wie eine Höhle auf mich und durchaus vertraut; man hat heutzutage ja alles, was es gibt, im Fernsehen schon gesehen. Das Zimmer ist mit Medizintechnik so vollgeräumt, wie man sich das eben auf der Intensivstation vorstellt. Eins der beiden Betten ist schon belegt, aber ich sehe meinen zukünftigen Zimmergenossen nicht, ein grauer Vorhang verdeckt ihn fast ganz. Man merkt nur: Da liegt einer. Er rührt sich nicht. Vielleicht schläft er. Oder vielleicht hat an ihm, wie man so sagt, alle ärztliche Kunst schon versagt? Aber nein, wäre er tot, hätte man ihn wohl längst fortgeschafft. Es wäre mir in diesem Augenblick aber auch egal, neben einen Toten gebettet zu werden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2008)

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