67 Schweiz

MARTIN AMANSHAUSER
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Christian, Spezialist für Samnaun: Sein Monolog über die Häufung von Zwergen.

Sie wollen die Geschichte vom Samnauner Zwergwuchs hören? Es existierten acht Zwerge in Samnaun, in fünf verschiedenen Familien. Der erste wurde 1852 geboren, der letzte starb 1959: plötzlich gab es in unserem Tal eine Häufung von Menschen, die nicht hochwuchsen. Die Samnauner Zwerge waren einzigartig, bei ihnen stimmten die Proportionen. Der größte maß einen Meter. Sie waren normal intelligent und arbeiteten als Schuster, Schreiner, Schneider. Eine Zwergin, die im „Hotel Post“ Verkäuferin war, wurde später sogar zum Tourismusmagnet Nummer eins.

Seit fünfzig Jahren kommen keine neuen Zwerge hinzu. Lange hat man über die Gründe gerätselt. Unsere Vorfahren hatten traditionell relativ nahe geheiratet – nun musste man sich den Vorwurf gefallen lassen, es läge an Inzest. Doch die Sache ist komplizierter. Sie reicht tief in die Vergangenheit.

Seit der Epoche der Reformation konnte man ja keine Ehefrauen mehr aus dem nahen Engadin holen. Wir Samnauner blieben nur kurz Anhänger der Reformation, denn unsere wichtigsten Handelspartner, die katholischen Tiroler, verlangten für ihre Waren plötzlich Wucherpreise. Also wurden wir wieder katholisch – und blieben unter uns. Denn und wenn holte einer aus Tirol eine Frau, doch insgesamt gab es wenig Austausch: Der rechte Samnauner fühlt sich als Eidgenosse. Viele Jahrhunderte lang lebten konstant 250 oder 300 Menschen im Tal, erst als der Tourismus begann, um 1920, stieg die Einwohnerzahl.

Früher lebten in Samnaun vorwiegend Großfamilien. Kindersegen war eine Überlebensstrategie. Die wenigsten dieser Kinder kamen in den Sommermonaten zur Welt, in denen die Arbeitskraft der Frauen auf den Feldern benötigt wurde. Unsere Vorfahren wussten das nämlich durchaus zu steuern.

Als man anno dazumal die Zwerge medizinisch untersuchte, kam man zu dem Schluss, der Zwergwuchs käme von der kargen Ernährung: nur Mehl- und Milchspeisen, selten Fleisch. Manchmal drehte man einer Henne, die keine Eier mehr legte, den Hals um, oder man schlachtete die alte Milchkuh. Die Familien begannen bereits montags mit dem Kochen des Sonntagsbratens. Natürlich hatten alle eine geringe Lebenserwartung. In meiner Jugend gab es etwa kaum 60-Jährige, die aufrecht gingen. Mittlerweile, in florierenden Tourismuszeiten, ist das völlig anders.

Info

Das Rätsel des Samnauner Zwergwuchses wurde jüngst wissenschaftlich geklärt. Es exis-tiert im Tal noch viel Verwandtschaft der verstorbenen Zwerge. DNA-Tests brachten überraschende Ergebnisse: Wenn ein spezifisches Wachstumsgen sowohl beim Vater als auch bei der Mutter defekt ist, kann in der nächsten Generation diese Art von Zwergwuchs auftreten.
In Südafrika gibt es einen Ort, wo ähnliche Zwerge existieren: vermutlich Zufall. Würde man zwei Menschen mit diesen genetischen Dispositionen zusammenbringen – nur theoretisch – könnte man solche Zwerge sozusagen hervorrufen. Martin Amanshauser, „Logbuch Welt“, 52 Reiseziele, Bestell- Info: Fax 01/51414-277.


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