68 Marokko

(c) Martin Amanshauser
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Verirrt sich der Besucher in der Fremde, wirkt er so, als suchte er seine Eltern.

Ich betrete den Jemaa el-Fna um sieben Uhr morgens. Weil ich gedacht habe, der berühmteste aller Plätze, 100 mal 150 Meter groß, sei bestimmt schon in den Morgenstunden ­interessant. Doch er ist noch außer Betrieb. Keine Affendresseure, Wasserverkäufer, Feuer­schlucker, keine Spur vom Geschichtenerzähler, der zwei lebendige Igel über den Asphalt rollt, und der Zahnzieher mit seiner Gebisskollektion schläft ebenso tief wie die Hütchenspieler, die Schnurschlingenspieler und die Lustknaben.

Ein Kiosk mit Küchenwaren steht offen, Siebe, Karottenreiben, Abtropfplastik. Der ­Besitzer sagt ein paar Worte. Ich senke den Kopf. Auf der anderen Seite steigen zwei Männer aus einem Auto. Beide tragen Schlangen um den Hals und rauchen. Ich frage mich, ob Beschwörer ihre Schlangen immer um den Hals tragen. Und ich frage mich – ein unpassend moderner Gedanke – ob die Schlangen unter der Nikotinsucht ihrer Besitzer leiden. Ein Trommelwirbel! Am Nordrand des Platzes prügelt ein Bub wie verrückt auf einen umgedrehten Blecheimer. Der Tag am Jemaa el-Fna beginnt vielversprechend. Der Souk hinter dem Blechtrommler ist noch leer. Zwei Männer liegen an der Mauer, wie Tote, mit einem Tuch über dem Kopf.

Ich nehme keine der Straßen in den Souk. Ich wähle die unauffälligste Gasse, um die erwachende Stadt zu erforschen. Der Weg wird schmal, dann breiter, wird schlammig, dann trocken. In einer Ecke hockt ein Mann mit ­wachen Augen und heruntergelassener Hose. Die Hausmauern, einst gelb, haben keine Farbe mehr, die wenigen Fenster sind vergittert. Ich gehe lange, so lange, bis ich mich ver­irre. Straßenschilder gibt es keine. Auch keine Eingänge: Wohnt hier jemand? Mir scheint, seit längerem bewege ich mich im Kreis. Die ­Häuser lassen keine Rückschlüsse auf den Stadtteil zu. Ich biege möglichst in Hauptstraßen ein. Immer sieht es eine Weile so aus, als ­würde ich einem Zentrum näher kommen, doch ich klebe fest in einer gnadenlosen und endlosen Vorstadt.

An einer Ecke stehen zwei junge Frauen in westlicher Kleidung, und jetzt riskiere ich es. Wo denn der Jemaa el-Fna sei? Sie lachen. Jemaa el-Fna, so süß – als würde ein Kind nach seinen Eltern fragen! Die ältere schlägt mit der Handfläche auf den Sattel ihres Mopeds. Wir steigen auf, brausen mit Vollgas los. ­Zuerst wage ich nicht, mich an ihr festzuhalten, aber sie deutet, mach nur. Sie fährt zu schnell: Hindernisse wie in einem wilden Computerspiel, Schlaglöcher, Lieferwagen, Maultiere und schließlich, an einem Nadelöhr, ein Rollstuhl. Die junge Frau bremst den Behinderten aus, der kippt fast um. Doch er lacht. Mich wundert, wie lang der Weg ins Zentrum ist, aber gleichzeitig möchte ich, dass die Fahrt noch länger dauert.

„Jemaa el-Fna, Café Toubkal!“, ruft die Frau fröhlich, lässt mich absteigen. Dann braust sie winkend davon, und ich stehe da, mit der Visitenkarte in der Hand, die ich ihr geben wollte.

Info

Martin Amanshauser, „Logbuch Welt“, 52 Reiseziele, Bestell-info: Fax 01/51414-277.


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