76 Serbien

(c) Schaufenster (Martin Amanshauser)
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Electricity drinks – wie eine einst bombardierte Stadt mit Stromausfällen umgeht.

Abends, in einem Straßenzug in Wien-Hietzing, stutzte ich. Ich kapierte nicht gleich, was los war. Irgendetwas war anders – genau, die Straßenbeleuchtung fehlte. Und hinter keinem der Fenster brannte Licht. Ein echter Stromausfall! Ein Mann auf einem Balkon sagte mit rauer, düsterer Stimme in meine Richtung: „Das geht jetzt schon eine halbe Stunde so!“ Ich blickte mich um. Hinter mir war niemand. „Die sind ja alle wahnsinnig geworden“, ergänzte er und zog sich zurück.

Niemand Sichtbarer war wahnsinnig geworden. Da kam mir ein überaus fröhlicher Stromausfall in Belgrad in den Sinn. Ich grübelte, warum mich diese Erinnerung nicht fröhlich, sondern traurig machte. Daheim blätterte ich im poetischen und merkwürdigen Buch „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“ von Peter Handke. Ich hatte es seit Belgrad nicht mehr berührt.

An jenem Sommertag frühstückte ich auf einer Esplanade vor dem Hotel Royal in Belgrad. Ein SMS meiner Verlegerin kam an. Sie teilte mit, dass der österreichische Bundespräsident Klestil verstorben sei. Bekümmert verrührte ich den Zucker in meinem bitteren Coca-Cola und trauerte über die Hinfälligkeit menschlichen Lebens. Ich überlegte, ob beide Klestil-Gattinnen dereinst in der Präsidentengruft am Zentralfriedhof bestattet würden, merkte aber, dass mich diese Frage weder beschäftigen sollte (ging mich nichts an) noch beschäftigen musste (würde geregelt werden). Auch merkte ich, es war ein Fehler gewesen, das Cola zu zuckern. Drittens merkte ich, dass mich der Tod „meines“ Präsidenten, dem ich mit beinahe erschreckender Teilnahmslosigkeit gegenübergestanden war, schwermütig machte. Vielleicht lag es an der Geschichte dieser Stadt Belgrad, die ihren eigenen Präsidenten erst kürzlich losgeworden war. Noch immer hingen unzählige Plakate dieses Mannes herum, der sich in einem anderen Land vor Gericht verantwortete.
Ich spazierte den ganzen Tag herum und zählte die Ex-Präsidenten-Plakate. Ich kam an etlichen Kriegsruinen vorbei. Ließ man sie stehen, damit es nicht wie eine Lüge wirkte, dass die „zivilisierte“ Welt 76 Tage lang, von März bis Juni 1999, diese Stadt bombardiert hatte?

Am Abend erlebte ich den fröhlichen Stromausfall. Die Passanten in der Fußgängerzone johlten und lachten. Verdunkelungen schienen sie an das Ende eines Albtraums zu erinnern. Ich setzte mich ins Café beim Hotel Royal, wo ich gefrühstückt hatte. Der Kellner fragte, ob er mir ein Cola mit Zucker bringen solle. Kaffee und Tee gäbe es gerade nicht, denn das seien „electricity drinks“. Er brachte eine Kerze. Im Schein der Flamme blätterte ich erstmals in Handkes Buch: „Mir dagegen erschien die Bevölkerung, zumindest so auf den ersten Blick, eigentümlich belebt, und zugleich, ja, gesittet“, so Handke. Das fand ich auch.
Aber erst beim Hietzinger Stromausfall begriff ich, was er mit „eigentümlich belebt“ meinte. Denn der österreichische Stromausfall war so eigentümlich unbelebt.


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