90 Slowenien-Jugoslawien

(c) Amanshauser
  • Drucken

Ein irres 3:3 in einem historischen Spiel und seine Nebengeschichte.

Am 13. Juni 2000 vergesse ich morgens, die Tür meines Eiskastens zu schließen. Sie steht zehn Stunden lang offen. Dieser Tag war einst nichts anderes als „heute“, doch die Zeit hat uns älter gemacht, und in Ihrem Gesicht – ja, ich meine Sie – hat sich eine scheußliche Falte gebildet: zwischen Nase und Oberlippe.

Sie ist ein Vorbote jener Falten, die sich an Ihnen festkrallen werden und die aus Ihnen ein schlaffes Ungeheuer machen, mit dem sich in den Fünfziger Jahren des 21. Jahrhunderts eine junge Krankenschwester herumplagt. Ihre zukünftige Krankenschwester muss regelmäßig mit Desinfektionstüchern die hellbraune Flüssigkeit entfernen, die aus der Spalte zwischen Ihren Hinterbacken sickert. Ihr Freund fragt sie manchmal, wieso sie so abwesend ist. „Ach nichts“, sagt die junge Krankenschwester.

Am 13. Juni 2000 steht die Tür meines Eiskastens zehn Stunden lang offen. Ebenso offen wie die Fenster meiner Wohnung. Um 22 Uhr komme ich heim. Ich denke an die 1,5 Liter Almdudler. Die Flasche ist warm. Entnervt stelle ich den Fernseher an. Slowenien führt 1:0, 2:0, dann 3:0 gegen Jugoslawien. Es ist das letzte Spiel zwischen zwei Ländern, von denen eines einst zum anderen gehörte.

Es klingelt an der Tür. Ein Nachbarjunge fragt mit traurigen Augen, ob ich seinen kleinen kuscheligen Hund Wolfi gesehen habe. Nein, hab ich nicht. Momentan tut sich in dieser Geschichte wenig. Sie können zum Spiegel gehen, Ihre neue Falte untersuchen! Als dann noch der Jugoslawe Mihajlovic die Rote Karte erhält (60. Minute), schlafe ich ein.
Ich schlafe zwei Stunden. Im Traum bin ich durstig. Ich möchte Almdudler. Öffne den Eiskasten. Schreie auf. Vor mir liegt totgefroren der kleine Hund Wolfi. Das Fußballspiel ist längst zu Ende. Im TV klappern die Hufe von Pferden über den Sand. Die Jugoslawen haben vermutlich 0:3 verloren. Normalerweise tut sich in Spielen, in denen eine der beiden Mannschaften drei Tore und einen Spieler Vorsprung hat, nur mehr wenig.

Die junge Krankenschwester schiebt Ihnen eine Tablette zwischen die Lippen. Sie können sie nicht schlucken: Schwierigkeiten mit der Speichelproduktion. Mir graut vor dem Weg in die Küche. Vielleicht liegt das kleine Hündchen Wolfi wirklich in meinem Eisfach. Es könnte ja untertags durch das offene Fenster eingedrungen sein. (1:3)

Sehen Sie Ihre Falte? Manchmal frage ich mich, ob man während jener Zeit, in der man sich neue Falten zuzieht, tatsächlich lebt oder nur Zeit absitzt. Manchmal überlegt die junge Krankenschwester, welcher Mensch Sie früher gewesen sind, ohne künstlichen Harnausgang, am Beginn des 21. Jahrhunderts. (2:3)

Leider kommen ihr diese Gedanken, wenn ihr Freund mit ihr schlafen will. Sie dreht sich auf die andere Seite. Der Freund ist zärtlich, aber auch ein bisschen ungeduldig. Die junge Krankenschwester will ihre Fantasien nicht preisgeben. Sie fürchtet sich vor dem Wort „Orgasmusprobleme“. (3:3)

TIPP

Martin Amanshauser, „Logbuch Welt“, 52 Reiseziele, Bestell- Info: www.diepresse.com/amans- hauser oder Fax 01/51414-277.


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.