Der rote Prinz

Habsburger, Hasardeur, Geheimagent: Erzherzog Wilhelm von Habsburg oder Der Traum von der Herrschaft über die Ukraine.

Was für ein Gefühl wäre es, zwischen Ewigkeit und Apokalypse geboren zu werden? Die Habsburger, die Familie von Erzherzog Wilhelm, hatten jahrhundertelang über große Teile Europas und weite Teile der Welt geherrscht. Sie hatten ihre mythischen Ursprünge auf die Griechen und Römer zurückgeführt, sich zu Verteidigern des Christentums aufgeworfen. Wie alle Kaiser hielten sich auch die Habsburger für zeitlos. Sie glaubten weder an Fortschritt noch an Verfall, sondern nur an die Generationen künftiger Herrscher aus ihrer Dynastie und ergingen sich in ritueller Verehrung ihrer Vorfahren.

Doch dann brachte das 19. Jahrhundert neueIdeen: Visionen einer Zukunft, in der Kaiserreiche von Völkern, die um Freiheit und nationale Souveränität kämpften, zerstört werden würden. Napoleon trug diese Vision zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Pferdes Rücken in die Welt, und in den Jahrzehnten danach verbreiteten romantische Dichter die Botschaft. Doch als das 19. Jahrhundert seinem Ende zu ging, schien am Horizont ein Zeitalter des Nationalismus zu dämmern.

Wenn die Habsburger überleben wollten, mussten sie sich der nationalen Zersplitterung entziehen. Erzherzog Stefan von Habsburg, der Vater von Erzherzog Wilhelm (1895 bis 1948), glaubte ein Mittel gefunden zu haben, wie man die Völker des Habsburgerreichs – Deutsche, Tschechen, Polen, Ukrainer, Juden und zahlreiche andere – an die Dynastie binden konnte: Das Reich sollte diese Völker adeln, indem es jedem von ihnen ein Kronland und einen Habsburger als Regenten zuwies.

Erzherzog Stefan führte dieses Experiment an seinem eigenen Zweig der kaiserlichen Familie durch, indem er seine Söhne zu polnischen Prinzen und seine Töchter zu polnischen Prinzessinnen machte. Sein jüngster Sohn Wilhelm begriff die Logik, die dem Plan seines Vaters innewohnte, wählte für sich aber ein anderes Land. 1895 im verträumtesten Teil des alten Habsburgerreichs geboren, an der Adriaküste, schwebte ihm, wie seinem Vater, ein Europa vor, dessen Völker unter dem Zepter der Habsburger harmonisch zusammenleben würden. Als er dann jedoch seine Brüder heranreifen und seine Schwestern heiraten sah, wurde ihm klar, dass der für ihn vorgesehene Platz in einer polnischen Königsfamilie ein eher bescheidener sein würde. Er begann noch einmal von vorne, bei einem anderen Volk des Habsburgerreichs: den Ukrainern. Nach seiner Überzeugung beging er mit diesem Schritt eine Rebellion gegen seinen Vater, doch in Wirklichkeit erwies er mit seinem Bekenntnis zur ukrainischen Nation dem Kaiserreich einen Dienst.

Im Ersten Weltkrieg wurde Wilhelm 1915 als Leutnant mit dem Auftrag nach Galizien entsandt, einen Infanteriezug zu „ukrainisieren“. Als die Habsburger 1918 im Verein mit ihren deutschen Bündnispartnern die gesamte Ukraine besetzten, markierte Wilhelm in der südlichen Steppe für sich ein kleines Territorium, das er der Kontrolle der von ihm befehligten Truppe unterstellte. Für einen kurzen Moment erlangte er bei den Ukrainern Berühmtheit als der „Rote Prinz“, der ukrainisch sprach, eine Vorliebe für die ukrainischen Bauern hatte und ihnen helfen würde, ein Stückchen Land zu bekommen. Doch dann verloren die Habsburger den Krieg; Wilhelm musste sein kleines Königreich räumen. Unter sowjetischer Herrschaft durchlitt die Ukraine Hungersnöte und Terror.

Als das Habsburgerreich 1918 zu Ende ging, war Wilhelm 23 Jahre alt. In einem flammenden Appell an US-Präsident Woodrow Wilson erklärte er, die Ukraine sei eine Nation, der die nationale Selbstbestimmung genauso gebühre wie ihren Nachbarn. In Wien ging er daran, Truppen zusammenzukratzen, die in die Sowjetunion einmarschieren und die Ukraine befreien sollten. Die Pläne verliefen im Sand, und dem Prinzen ging das Geld aus.

Im Pariser Exil schmiedete er zu Beginn der 1930er-Jahre in aller Heimlichkeit an einem Komplott mit, das die Re-Inthronisierung der Habsburger in Mittel- und Osteuropa zum Ziel hatte. Wilhelm war als Repräsentant der Ukraine in einer neuen habsburgischen Föderation vorgesehen. Doch dann veranstaltete Wilhelm seine eigene, höchstpersönliche Apokalypse. Er hatte seinen Namen und einen guten Ruf bei den Ukrainern, doch er würde sehr viel Geld brauchen, und zwar schnell. Alle Welt hielt ihn für märchenhaft reich, doch in Wahrheit stand er am Rand der Zahlungsunfähigkeit. Obwohl er das männliche Geschlecht vorzog, nahm er sich eine erfolgreiche Hochstaplerin zur Geliebten, die ihm versprach, das Geld aufzutreiben, das er für die Rückkehr in die Politik brauchte. Sie hielt ihr Wort nicht, und Wilhelm brachte es fertig, sich und die Sache der Habsburger durch einen Skandal zu kompromittieren, in dem Absinth, die Rothschilds, das Pariser Hotel Ritz und Sex mit Matrosen eine Rolle spielten.

Wilhelm entfloh den Zerstreuungen von Paris, das ihm plötzlich die kalte Schulter zeigte, nach Wien. Daraufhin versuchte er sich eine führende Rolle in diversen ukrainischen Geheimgesellschaften zu verschaffen. Wütend und einsam geworden, begeisterte er sich kurzzeitig für die Nazis und ihre Vision von der Zerstörung der alten Ordnung Europas. In Deutschland sah Wilhelm die einzige Macht, die in der Lage sein würde, der Sowjetunion und Polen ukrainisches Territorium zu entreißen.

Als die Deutschen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Polen einmarschierten, besetzten sie die Burg in Galizien, in der Wilhelm aufgewachsen war. Die Gestapo folterte Wilhelms älteren Bruder. Hans Frank, der polnische Generalgouverneur von Hitlers Gnaden, stahl Wilhelms Familiensilber. Wilhelm wechselte vom Licht der Öffentlichkeit ins Dunkel der Schattenwelt: Er trat als Spion gegen Hitler in die Dienste Großbritanniens und Frankreichs.

Im Kalten Krieg führte Wilhelm seine Spionagetätigkeit in Wien weiter; sie richtete sich jetzt gegen Stalin, dessen Truppen die österreichische Hauptstadt besetzt hielten – wie große Teile Mittel- und Osteuropas. Schließlich wurde er von der sowjetischen Spionageabwehr geschnappt, zu Tode gefoltert und in einem namenlosen Grab verscharrt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.