Hitlers Jude

Ein Jude, der Hitlers persönlichen Schutz genoss: das Leben des Arztes Eduard Bloch, plastisch erzählt von Brigitte Hamann in "Hitlers Edeljude".

In Braunau am Inn sitze ich in einem Straßenlokal, die letzten Sonnenstrahlen der Herbstsonne wärmen den Bürgersteig, hinter mir klappern die Teller, und italienische Worte klingen laut und lebendig heraus. Auf meinem Schoß Brigitte Hamanns letztes Buch, über Eduard Bloch, den Arzt, der Klara Hitler bis zu ihrem Tod behandelte und begleitete. Während mir der Besitzer des kalabresischen Lokals die heutigen Angebote vorsagt, ruft meine Tochter von der anderen Straßenseite: „Mama, was steht auf dem Stein?“ Auf dem von ihr inspizierten Mauthausener Stein, der vor Adolf Hitlers Geburtshaus aus dem Gehsteig ragt, kann man „Für Frieden, Freiheit und Demokratie. Nie wieder Faschismus. Millionen Tote mahnen“ lesen. Wie soll ich die unvorstellbare Geschichte hinter dem schlichten Satz in die Sprache einer Sechsjährigen übersetzen?

Eduard Bloch wurde am 30. Januar 1872 in Frauenberg an der Moldau geboren. Gerne erinnerte er sich später stolz, dass sein Großvater Hofjude des regierenden Fürsten Schwarzenberg gewesen sei. Des Hofjuden Enkel studierte Medizin in Prag, das er liebevoll die Mutter des Judentums nannte, und erlebte dort die ersten nationalen Kämpfe, denn die Tschechen wollten ein tschechisches Prag, und die Deutschen wollten ihre jahrhundertealte starke Position in Prag nicht kampflos aufgeben. Zahlreiche Prager Juden standen in dieser Zeit geschlossen auf deutscher Seite. Aber bald schlug der vereinende Antislawismus durch die Hetzreden des radikalen Alldeutschen Karl Hermann Wolf in einen glühenden Antisemitismus um. Wolf verfolgte die Loslösung der deutschsprachigen Gebiete aus dem habsburgischen Vielvölkerstaat und deren Anschluss an das Deutsche Reich. Nach seinen Hetzreden konnte man „Juden raus“ – eine damals noch neue Losung – an jüdischen Geschäften lesen.

Als ich Hamanns Buch zur Rezension zugeschickt bekam, spürte ich anfangs wenig Verlangen, mich noch einmal mit Hitler und der Geschichte dieser Jahre zu befassen, aber nach wenigen Seiten bereits war ich zufrieden, es getan zu haben. Die Geschichte des Arztes, der Hitlers Mutter Klara 1907 für einige Monate betreute und in diesem Zusammenhang ihrem schmächtigen Sohn begegnete, dient als Transportmedium, um eine gut gegliederte, wunderbar lesbare Schilderung der Zeitgeschichte von der Jahrhundertwende bis zum Ende des zweiten Weltkrieges zu präsentieren. Eduard Blochs Begegnung mit dem jungen Hitler wäre für den Arzt eine Begegnung unter vielen geblieben, wäre aus dem schmächtigen Jüngling später nicht der Führer des Dritten Reiches geworden. Dass er so berührt gewesen sein soll von der Krankheit und dem Sterben seiner Mutter, darf rückblickend als eine der wenigen verständlichen Reaktionen dieses Mannes gewertet werden. Dass er nach dem Tod der Mutter seine jüngere Schwester sofort um die Hälfte ihrer Waisenpension prellte, rückt das Bild dieses Mannes rasch wieder ins gewohnte Licht.

Eduard Blochs Bestreben war es, ein guter Arzt und ein gläubiger Jude zu sein, und er erfreute sich allgemeiner Anerkennung und Wertschätzung. Seine Gefühle Hitler gegenüber und dem durch ihn gewährten Schutz vor allzu demütigender Verfolgung waren immer ambivalent und somit nicht frei von Stolz, dass er sich eine Sonderstellung verdient hatte. Weil man die Geschichte rückblickend liest, möchte man rufen: „Lauf, lauf, sonst kriegt er dich dennoch, er wird dich nicht schonen!“

Bloch erlebt hautnah, wie man seine Glaubensgenossen ausraubt, sie demütigt, ihnen ihre Wohnungen, ihre Berufe und ihre Würde nimmt, er leidet mit ihnen und kann nicht glauben, dass irgendwann alle Juden vor Hitler gleich sein werden. Er darf zwar in seiner schönen Wohnung bleiben, darf aber seinem Beruf nicht mehr nachgehen, und immer wieder fragt die Gestapo bei ihm nach, ob er nicht doch irgendeinen Arier in der Familie hätte. Er hatte keinen. Er wollte keinen. So mancher hätte gern in der Schublade einen lebensrettenden Arier gefunden, und manch einer fand ja tatsächlich einen. Hitler ließ Bloch und seiner Familie das Leben und ein Stück ihrer Würde, aber an seinem Vermögen konnte er nicht vorbei, ohne zuzugreifen, was dem mittlerweile alten und müden Bloch – die Fahrkarten nach Lissabon endlich in der Tasche – schließlich den Blick klärte.

Brigitte Hamann schafft es, ein plastisches Bild vom Leben und Schicksal der oberösterreichischen Juden zu geben, und zeigt flüssig und verständlich, wie sich die Fäden der Ereignisse verknüpfen, bis das Netz gewebt ist, das wir Geschichte nennen. Sie schildert faktenreich, wie sich der Antisemitismus langsam – unter anderem durch stete christlichsoziale Unterstützung – hochschaukelt, wie der Dialog durch die Vorfälle der Zwanzigerjahre zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten brüchig wird und schließlich in unversöhnlicher Feindschaft endet. Hier erstarkt die dritte politische Kraft im Land: damals die Nationalsozialisten.

Wenn Ernst Rüdiger Fürst Starhemberg, der Führer der oberösterreichischen Heimwehren, 1930 bei seiner Angelobung als Minister auf die Verfassung schwören muss und ausruft: „Die Verfassung ist für mich ein Fetzen Papier!“ und mit Blick auf den jüdischen Finanzreferenten ankündigt: „Der Kopf dieses Asiaten wird in den Sand rollen!“ – ist es da ganz unangebracht, wenn mir plötzlich Vorkommnisse aus der aktuellen österreichischen Geschichte in den Sinn geraten? Wenn ebenfalls 1930 ein österreichischer Justizminister auf der Ringstraße wettert: „Wir wollen Österreich von diesem fremdrassigen Gezücht befreit sehen...!“ – darf ich mich dann an Akzente aus dem vergangen Wahlkampf erinnern?

Das Buch bewegte mich, weil deutlich wird, wie das anfangs Unfassbare greifbar wird; wie leicht wird es dann, Menschen, denen alles genommen wurde – der personaberaubt –, auf die Schulter zu tippen und ihnen beim Fallen in den Tod ungerührt zuzusehen!

Könnte meine Tochter schon lesen, würde ich ihr dieses Buch als Schulbuch wünschen, damit sie Geschichte als ein Gewebe wahrnehmen lernt, dessen Fäden bis in die Gegenwart reichen. Wenn wir nicht achtsam die Knoten setzen, weben wir die alten Fehler immer wieder ein. ■


Brigitte Hamann: "Hitlers Edeljude. Das Leben des Armenarztes Eduard Bloch". 512 S., geb., € 25,60 (Piper Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2008)

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