Asche mit Retsina

Der Blick, die Weite, die Stille, der Geruch von Bergsalbei, das Sirren der Zikaden – hier muss-te Bruce Chatwins letzte Ruhestätte sein. Ein Lokalaugen-schein auf dem Peloponnes.

Anfang der Siebzigerjahre kaufte ich in einem Bergdorf auf dem südlichen Peloponnes ein baufälliges steinernes Haus. Die Attraktion war nicht das Haus, sondern die berauschende Aussicht auf mattgrüne Olivenhaine, auf die metallisch glänzende Fläche des Ionischen Meers und die weit geschwungene Küstenlandschaft Messeniens. Das Dorf heißt Pigi, die „Quelle“, und liegt an den Ausläufern des mächtigen Taygetosgebirges auf der Halbinsel Mani.

Auf die Idee, in diese Gegend zu reisen, hatte mich ein Buch des englischen Schriftstellers Patrick Leigh Fermor gebracht; sein Titel: „Mani, Reise ins unentdeckte Griechenland“. Fermor, der im Zweiten Weltkrieg als Verbindungsoffizier der britischen Armee auf Kreta gegen die deutschen Okkupanten gekämpft hatte, unternahm seine Wanderungen durch das Mani Anfang der Fünfzigerjahre. Seine so gelehrsamen wie eleganten Schilderungen über eine historisch bemerkenswerte, damals aber höchst selten besuchte Gegend Griechenlands war gleichsam die Initialzündung zu meiner Reise in das Mani und der Hauskauf eine glückliche Fügung.

Fermor und seine Frau Joan hatten zu diesem Zeitpunkt schon längst ihr Domizil in dem nahen Küstenort Kardamyli aufgeschlagen, der ihm, wie er schrieb, wie das „wiedergeborene Byzanz“ erschien. Ich bin ihnen in all den Jahren, in denen ich das Haus besaß, nur einmal begegnet: in der kleinen Taverne von Nikos Ponireas in Kardamyli.

Es ist lange her, seit ich das letzte Mal in dieser Gegend Griechenlands war. Anfang Oktober stieg ich ins Flugzeug nach Athen, mietete ein Auto und fuhr los in Richtung Kardamyli. Ich wohnte wieder in meinem ehemaligen Haus in Pigi, das seit Längerem im Besitz von Freunden ist. Aus der Bruce-Chatwin-Biografie von Nicholas Shakespeare wusste ich, dass nach Chatwins Tod seine Asche neben einer Kapelle in einem Dorf namens Chora oberhalb von Kardamyli vergraben worden war. Ich machte mich auf die Suche nach diesem Platz.

Von Kardamyli führt ein um diese Zeit ausgetrocknetes Flussbett in die Viros-Schlucht, gewiss eine der gewaltigsten Naturkulissen auf dem Peloponnes. Ich folgte dem Flussbett, das mit gebleichtem, rundgeschliffenem Geröll angefüllt ist, auf einem von Kastanienbäumen und Tamarisken gesäumten Pfad bis zum unbewohnten Kloster Sotiros. Je tiefer ich in die Schlucht eindrang, desto höher türmten sich rechts und links die schroffen Kalksteinwände auf. Nach etwa einer Stunde Gehzeit erreichte ich eine Abzweigung, die meinem Gefühl nach zum Dorf Chora führen musste. Ein schmaler Weg schlängelt sich durch Olivenhain-Terrassen bergauf; als ich an Höhe gewonnen hatte, eröffnete sich unerwartet ein Blick auf die kahle Felspyramide des Profitis Ilias, des höchsten Gipfels des Taygetosgebirges.

Das Dorf, das ich wenig später betrat, war tatsächlich Chora. Es schien menschenleer, kein Schellengeläut von Ziegen, keine blökenden Schafe, kein Hundegebell. In einer der engen Gassen entdeckte ich einen Mann, der an seinem Motorrad hantierte. Ich fragte. Ja, Kapellen gebe es hier einige, und er deutete in verschiedene Richtungen. Ich bedankte mich und überlegte. Die Kapelle, die ich suchte, musste sich an einem außergewöhnlichen Ort befinden. Also folgte ich instinktiv einem Weg hinaus aus dem Dorf, der durch hohes Gras auf eine Art Plateau führte – und stand plötzlich vor der Hinterseite einer schlichten Kapelle. Ich ging zum Eingang, vor dem ein halbkreisförmiger kleiner Vorplatz liegt, umgeben von Zerreichen, Oliven- und Feigenbäumen, und war mir sicher: Der Blick, die Weite, die Stille, der Geruch von Bergsalbei, das Sirren der Zikaden – hier musste Bruce Chatwins letzte Ruhestätte sein.

Bruce Chatwin lernte Patrick Leigh und Joan Fermor 1970 kennen, also bevor ich Mani zum ersten Mal besuchte. Er verbrachte einige Zeit in ihrem Haus in Kardamyli, um an seinem Nomadenbuch „The Nomadic Alternative“ zu arbeiten (das, als es fertig war, vom Verlag nicht veröffentlicht wurde). Paddy Fermor, belesen und polyglott, war ausersehen, Chatwins letzter Guru zu sein; Chatwin beneidete ihn, wie sein Biograf anmerkte, um seine vielfältigen Kenntnisse und Erfahrungen.

Im April 1984 kehrte Bruce Chatwin von seiner zweiten Australienreise zurück. Er flüchtete aus seiner Londoner Mansarde nach Homer End, einem ehemaligen Schulgebäude in einem Tal südlich von Oxford, in der Hoffnung, sich dort besser auf die Arbeit an seinem Großprojekt „Traumpfade“ konzentrieren zu können. Aber es lief nicht so, wie er wollte. Zudem machte sich wieder das „geheimnisvolle Virus“ bemerkbar, das ihn schwächte und von dem er meinte, dass ihm Schlimmes bevorstehe. Einem Freund schrieb er, er müsse dringend in eine recht primitive Gegend verschwinden mit einem relativ guten Klima, also ans Mittelmeer. Am 1. Jänner 1985 erreichte Chatwin Kardamyli und mietete sich im Hotel Theano ein. Das liegt nur ein paar Minuten vom Haus der Fermors entfernt. Fast jeden Abend spazierte Chatwin zum Haus seiner Freunde. An Paddy Fermor, den er verehrte, wollte er sich messen, er wetteiferte mit dem weitaus älteren Freund, und wenn ihn der im Gespräch verbesserte, „zuckte sein Gesicht gereizt“.

Chatwin war wie Fermor ein leidenschaftlicher Fußgänger. Er war fest davon überzeugt, dass Gehen nicht einfach nur einen therapeutischen Wert besitze, sondern eine poetische Handlung sei, die die Welt von ihren Übeln heilen könne. Auf einem ihrer Ausflüge führte Fermor Chatwin zu der kleinen Kapelle Agios Nikolaos am Rand des Dorfes Kato Chora hoch über Kardamyli. Chatwin verliebte sich in den Steinbau und in den Blick über Berge und Meer hinaus ins Unendliche. „Wir gingen oft zum Picknicken dorthin“, erwähnte Joan Fermor. „Für uns war es immer Bruce' Platz.“

Bruce Chatwin starb am 18. Jänner 1989 im Alter von 48 Jahren im städtischen Krankenhaus von Nizza an Aids. Zwei Tage später wurde seine Leiche eingeäschert; am 14. Februar fand in der griechisch-orthodoxen Kirche Saint Sophia in London-Bayswater ein Gedenkgottesdienst in griechischer Sprache statt. Einen Tag später flog seine Frau Elizabeth nach Griechenland, um Bruce' Wunsch zu erfüllen, seine Asche bei der Kapelle Agios Nikolaos der Erde anzuvertrauen. „Der Boden war zu hart, um sie einzugraben“, berichtete Fermor. „Deshalb hoben wir unter einem Olivenbaum sehr dicht bei der Kirche mit dem Spaten ein Loch aus, schütteten Bruce' Asche hinein, gossen Retsina darüber und sprachen ein griechisches Gebet. Dann hielten wir ein Picknick, was ihm wahrscheinlich gut gefallen hätte.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.