Zeitgeschichte: „Mannschaft hustet fürchterlich. Krieg!“

'Gesprengte Berge - getrennte Herzen. Der 1. Weltkrieg in den Dolomiten'. m Bild: Höchster Schützengraben der Italienfront (am Ortlergipfelplateau). Sendung: ORF2, Freitag, 24.03.2006, 21:15 Uhr.
'Gesprengte Berge - getrennte Herzen. Der 1. Weltkrieg in den Dolomiten'. m Bild: Höchster Schützengraben der Italienfront (am Ortlergipfelplateau). Sendung: ORF2, Freitag, 24.03.2006, 21:15 Uhr.(c) ORF (Kaiserjägermuseum Innsbruck)
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Krieg in den Bergen: 90 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs versucht die einstige „Frontprovinz“ Trient zu retten, was ihr von den „letzten Tagen der Menschheit“ blieb – bis in höchste Gletscher-Regionen.

Ganz unten, im Tal der Etsch, ist der Hubschrauber gestartet. Jetzt knattert er steil nach oben. In der Morgensonne faltet sich Meter um Meter das Panorama der Dolomiten auf: Gen Westen zu, in Flugrichtung, steigt bläulich die Brenta aus dem Dunst, links der Gardasee, vorne das gleißende Weiß der Adamello-Gletscher.

Der Helikopter landet auf einem felsigen Sattel. Drumherum Geröll, Eis, ein paar verfallene Holztreppen, eine Biwakhütte. „Nur ein Viertelstündchen“, hatte Sergio Chini gesagt, dauere die Wanderung, nur hundert Höhenmeter seien es bis zum Cavento-Horn – aber das Herz rast, im Kopf beginnt sich's zu drehen, die Beine werden schwerer als Blei. Auf 3300, 3400 Meter ist man nicht jeden Tag; und das ohne Akklimatisierung.

„Das Panorama ist wunderbar. Ich sehe vom Großglockner bis zum Matterhorn und, am Horizont, den Mont Blanc. Unglaublich!“So schrieb der österreichische Oberleutnant Felix Wilhelm Hecht von Eleda am 17. Februar 1917 in sein „Kriegstagebuch vom Cavento“, Notizen von einer Front, die heute unvorstellbar scheint: jener zwischen Österreich und Italien im Ersten Weltkrieg. Der endete vor 90 Jahren – und führte am 12. November 1918 zur Ausrufung der Republik Österreich.

Die extremste von Hechts Stellungen graben Chini und einige Archäologen jetzt aus: „Voriges Jahr sind wir auf dem Bauch reingekrochen“, sagt Chini. Dann schmolz man mit großen Fönen 80 Kubikmeter Eis weg. Nun öffnet sich, im schmalen Gipfelgrat des Cavento, eine Höhle, 40 Meter lang, teils vier Meter hoch. Die „Caverna“, die der 23-jährige Hecht von Eleda in den Granit sprengen ließ.

Wo man die Feinde reden hört...

120 Schritt neben den Kaiserjägern lag der Feind, die „Alpini“. „Wir hören sie reden“, notiert Hecht. Er hatte Befehl, den Gipfel zu sichern. Zwei Haubitzen hatte er auf 3402 Meter schleppen lassen, die Kampfhöhle war nach drei Seiten offen, aus ihr feuerten MGs.

„Gegraben“, sagt der bei der Provinzverwaltung Trient angestellte Chini, „haben sie das in einem der schneereichsten Winter seit 1847“. Und nicht nur: Chini zeigt auf den Gletscher: „Da liefen Tunnels im Eis, zehn Kilometer lang, gewühlt nachts, mit Hand und Pickel im Laternenlicht, für heimlichen Nachschub an Mann und Material.“ Und die Gletscherspalten? „Die haben sie im Untergrund mit Planken überbrückt; und die mussten auch erst heraufgebracht werden.“

„22 Grad minus“, notiert Hecht am 28. Februar 1917: „Erfrierungen zweiten Grades. Mannschaft hustet fürchterlich. Krieg!“ Und immer wieder: „Heute heftiger Schneesturm. Arbeit von zwei Wochen zerstört.“

Der „Weiße Krieg“, das war der Teil des Ersten Weltkriegs, der in den Alpen tobte, bei dem allein durch Lawinen, Steinschlag und Frost 60.000 Mann starben. Nur wenige Wochen lang, nachdem Italien im Mai 1915 in den Krieg gegen Österreich gezogen war, hatte die k.-u.-k.-Armee geglaubt, an der eisigen Grenze in dreieinhalbtausend Metern werde keiner angreifen. Ein Irrtum. „Der weiße Schnee war gierig, das rote Blut zu trinken“, dichtete Wiens Propaganda. Österreich befestigte die Alpen, begrub Gipfel unter Stacheldraht, und Italiens Alpini (Hecht nennt sie ehrfürchtig „Tiger“) rannten dagegen an.

...und Städte im Eis entstanden...

Es entstanden, in der Marmolata etwa, ganze Städte im Eis. Gipfel wie der Monte Altissimo nordwestlich des Gardasees sind bis heute von einem Labyrinth aus Schützengräben durchzogen; einige, wie der Col di Lana in den Dolomiten, wurden wochenlang unterminiert, dann gesprengt.

Am 8. 6. 1917 schreibt Hecht: „Heute morgen Gasmaskenprobe.“ Ob Österreich Gasgranaten einsetzen wollte oder er Angst hatte vor italienischen, schreibt er nicht. Eine Woche später war er tot. Er ahnte, dass die Alpini den Cavento umzingeln würden. „Es ist ein schrecklicher Berg. Von allen Seiten hört man das Zischen und Pfeifen der Geschosse, das Krachen der Maschinengewehre. Du Gott, voller Erbarmen, rette mich armen Sünder!“ So hatte der blonde, hünenhafte Kommandant kurz zuvor noch geschrieben, aber seine Aufklärer hatten ihn bis zuletzt beruhigt: „Keine auffälligen Bewegungen des Feindes. Nur ein paar Gemsen in der Wand.“

Aus der Höhle im Cavento, die bis zum Waffenstillstand am 3. November 1918 noch zweimal die Besitzer wechselte, bergen Sergio Chinis Leute, was übrig blieb. „Den Kanonenofen sehen Sie? Daneben lag, ordentlich gestapelt, Brennholz. Und hinter diesen Verschlägen für die Feldbetten, wo auch die Latrine war, muss die Krankenstation gewesen sein. Da fanden wir Verbandsmaterial.“

Und Helme und Mützen, italienische und österreichische, Wäsche, weiße Tarnumhänge. Und Zeugnisse des Soldatenlebens: Etwa „Künstners österr.-ung. Kriegs-Taschen-Kalender 1917“ mit dem handgeschriebenen Gedicht eines Österreichers auf seine Kameraden, in dem Läuse die Hauptrolle spielen, dazu Handgranaten, die als Öllampen dienten. Sogar Zitronen: außen schwarz, innen in Ordnung. Sie hätten sicher die Vitaminversorgung gesichert – wohl jene der Italiener.

... gibt der Gletscher Leichen frei...

Hecht von Eledas Leiche fand man nicht. Sie war nicht unter jenen, die der Gletscher jedes Jahr freigibt, so, wie er Unmengen von Geschoßen ausschwitzt, ja ganze Kanonen. In Berghütten sind ganze Räume voll Granaten und durchschossener Helme. Die Gletscher des Adamello-Massivs ziehen illegale Sammler an. „Zweimal sahen wir heuer Helikopter dort landen“, sagt Chini. „Einige Leute brachen die Tür zur Cavento-Höhle auf und entkamen, die anderen hat die Polizei gestellt.“

Die Ausgrabung der Cavento-Höhle gehört zum „Projekt Großer Krieg“, mit dem sich die Autonome Provinz Trient ihrer Vergangenheit stellt. Das „Trauma von 1918“ wirke im Trentino fast noch stärker nach als der Zweite Weltkrieg, sagen Historiker. Giuseppe Ferrandi, Museumsleiter in Trient, meint, 1918 sei für das Trentino „eine geschichtliche Wasserscheide“ gewesen.

Was die Gletscher- und Felstunnels sind, sind heute die alten Autobahnröhren in der Stadt. Der Verkehr fand andere Wege, die Tunnels wurden frei für ein Museum der speziellen Art: die Wiederbelebung der im Untergrund wühlenden Geschichte. Ein Tunnel ist schwarz ausgemalt, darin alte SchwarzWeiß-Filme, Tonspuren vom „Großen Krieg“, Lichteffekte wie in einer Geisterbahn erzählen vom Schicksal eines verlorenen Volkes: Von 350.000 Trientinern mussten damals 200.000 gehen. Österreich leerte sein Frontgebiet zu Italien – nicht, um seine Bürger zu retten, sondern weil der Kaiser seinen Untertanen italienischer Zunge nicht traute.

Die Trentiner wurden in Viehwaggons bis nach Mähren verschickt. Sie vegetierten in Lagern; als sie ab 1919 zurück durften, hatten sie kein Heim mehr. Nicht nur, dass viele Dörfer zerbombt waren, stand das Trentino nun unter Herrschaft Roms. Das aber hielt „seine“ Trentiner für „Austriacanti“, für „österreichisierende“ Landesverräter, und internierte sie seinerseits. Das war, sagt Ferrandi, „der Schock für ein ganzes Jahrhundert“.

Für das „Projekt Großer Krieg“ ist entlang der einstigen Grenze auch Michela Favero unterwegs – meist in finsteren Gemäuern, die nicht zu der fröhlichen Architektin passen. Sie saniert einige der 114 Forts, die Österreich ab 1860 gegen Italien baute. Etwa die Feste Corno: Bei ihr denkt Favero an eine Echse, so wie das graue, lang gezogene fünfstöckige Monster auf einem Berg über dem Chiese-Tal lauert. Das Tal steigt von der Lombardei her auf, eine gute Marschroute für die Italiener. „Aber das Fort“, lacht Favero, „war unnütz. Die Geschützpositionen waren direkt übereinander. Eine Granate reichte, und alle Stockwerke stürzten ein.“

... und der Kriegstourismus blüht.

Im Chiese-Tal, wo sie ihren Espresso mit einem Schuss Rotwein trinken und die Bars von Kriegszeug überquellen, hofft man, dass vom Kriegstourismus etwas Geld bleibt. „Obwohl die Forts in Trümmern liegen, kommen viele Deutsche, mehr als Italiener. Die Deutschen kennen sich erstaunlich aus“, meint Nello Lolli, Bürgermeister im 250-Seelen-Dorf Praso bei Fort Corno. Führungen könne man da machen, sagt der Ortschef, der aussieht, als sei er aus einem gallischen Dorf. Sonst gibt's hier wenig.

Derweil hat Chini die Höhle am Cavento winterfest gemacht. Man hat einen Geheimgang entdeckt. Was mit der Höhle passiert, weiß Chini nicht. Soll man sie gegen Plünderer sperren? Ausräumen und als Denkmal offen lassen? Sie in den nahen „Naturlehrpfad Virgilio Marchetti“ eingliedern?

Dort ziehen zwei Bergsteigergruppen vorüber. Gebannt starren sie auf den Hubschrauber, der in den blauen Himmel abhebt. Wen muss der nur wieder retten?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2008)

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