„Weil ich ein Atheist war“

Oft ziehen Denkmäler den Schlussstrich unter ein Kapitel der Geschichte. Die Gedenkstätten von Bogdan Bogdanovi¿ indes sind zeitlos – und wurden durch den Zerfall Jugoslawiens unvermittelt in die Gegenwart geholt.

Ich habe immer geglaubt, dass eine Menschheit ohne Monumente glücklicher ist als eine Menschheit, die Monumente braucht“, sagt ausgerechnet jener Mann, der wie kein anderer im früheren Jugoslawien für seine Denkmäler bekannt geworden ist – obwohl und weil seine Philosophie und seine künstlerische Sprache in stetem Widerspruch zu den ästhetischen Dogmen seines Landes standen: War dies zunächst der sozialistische Realismus, der trotz Titos frühem Bruch mit Stalin auch in der blockfreien Volksrepublik noch lange als künstlerische Doktrin galt, so waren es später die jugoslawische Moderne oder gegen Ende des Vielvölkerstaats die aufkeimenden nationalen Strömungen in Wissenschaft und Kultur. 20 großmaßstäbliche Gedenkstätten schuf Bogdan Bogdanović von den frühen 1950er-Jahren bis in die 1980er-Jahre quer durch Jugoslawien – gegen Krieg und Vernichtung, Terror und Zerstörung. Anlässe dafür gab es genug, zumal die Geschichte dieser Region wie kaum einer anderen in Europa von Gewalt und Unterdrückung geprägt ist – so sehr, dass die Leiderfahrungen der einzelnen Volksgruppen, insbesondere der Serben, geradezu identitätsstiftend zu sein scheinen.

So behauptet Belgrad von sich emphatisch, die am häufigsten zerstörte Stadt der Welt zu sein. Fast 50 Mal wurde die Balkanmetropole von feindlichen Heeren verwüstet: von Hunnen und Awaren, von Habsburgern und Osmanen, im Zweiten Weltkrieg sowohl von den Deutschen als auch von den westlichen Alliierten und 1999 schließlich durch ein 76-tägiges Bombardement der Nato. Zu dieser Zeit hatte Bogdanović Belgrad längst verlassen – seine Geburtsstadt, die dem esoterischen Stadtforscher in ihrer einstigen Buntheit und Vitalität zum Maßstab für Urbanität geworden war, in der er als Universitätsprofessor eine ganze Architektengeneration geprägt hatte und wo er von 1982 bis 1986 sogar als Bürgermeister amtiert hatte. Heute lebt Bogdan Bogdanović in Wien, wohin er als einer der frühesten und vehementesten Kritiker von Slobodan Milošević 1993, nach jahrelangen Drangsalierungen und öffentlichen Morddrohungen, mit seiner Frau Ksenija flüchtete.

Geboren wurde Bogdanović 1922 in eine bürgerlich-intellektuelle Familie. Seine Mutter war Gymnasialdirektorin, sein Vater Literaturkritiker und später Direktor des serbischen Nationaltheaters. Der junge Bogdan begeisterte sich, so wie sein Schulfreund Milo Dor, bereits als Gymnasiast für den Surrealismus und kämpfte im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der kommunistischen Partisanen, ehe er sein Architekturstudium absolvierte.

Als er erst 29-jährig von der jüdischen Gemeinde Belgrads zu einem Wettbewerb für ein Denkmal auf dem sephardischen Friedhof eingeladen wurde – von den 10.000 Juden der Stadt hatten nur 500 den Holocaust überlebt –, nahm er daran zunächst mehr aus Mangel an beruflichen Alternativen denn aus Begeisterung über diese Aufgabe teil. Doch durch die Beschäftigung mit der jüdischen Symbolik wuchs die Faszination des Surrealisten für die transzendentale Dimension des Memorialbaus.

Sakraler Symbolismus

„Auf einmal offenbarte sich mir eine neue Welt, eine Parallelwelt, in der alles Diesseitige – religiös interpretiert – auch etwas Jenseitiges bedeuten konnte“, erinnert sich Bogdanović. „Außerdem wirkte der sakrale Symbolismus umso stärker auf mich, als ich ein Atheist war wie schon mein Vater und mein Großvater. Ich konnte bis dahin nicht ahnen, wie viel Bedeutungsvolles für einen neugierigen Menschen in der Welt der religiösen Vorstellungen und Bilder steckt.“

Bogdanović entwarf für die jüdischen Opfer des Faschismus ein „Tor am Ende des Weges“ – zwei große steinerne Flügel, auf die eine Achse zuläuft. Neben klassischen jüdischen Symbolen wie dem Davidstern und dem siebenarmigen Leuchter schöpfte er dabei auch aus dem Zeichen- und Formenschatz anderer Kulturen. Das Tor etwa weckt Assoziationen zu vorantiken Tempelbauten. Von eindeutigen Botschaften hielt der junge Architekt Abstand – und gewann den Wettbewerb. Für ein Volk, von dem viele ihren Lebensweg nicht zu Ende gehen konnten, war die Allegorie von einem Tor am Ende des Weges ausreichend verständlich. Für andere hingegen stellte die Offenheit der Symbolik, der breite Interpretationsspielraum des Monuments sowie das Fehlen von Hammer und Sichel eine Provokation dar: Es war das erste Denkmal in Jugoslawien, das nicht dem Geist des sozialistischen Realismus entsprach. Und für Bogdanović war es der Beginn seiner bis heute währenden metaphysischen Auseinandersetzung mit Architektur, die auch all seine späteren Gedenkstätten bestimmen sollte.

Bei der Planung und Realisierung von Zweckbauten hätte der Surrealist niemals jene Freiräume gehabt, die er sich im Memorialbau erschließen konnte, sodass er sich bereitwillig auf diese Nische verlegte. Nach einem Gedenkfriedhof für im Zweiten Weltkrieg zu Tausenden erschossene Zivilisten im vojvodinischen Sremska Mitrovica sowie einer symbolischen Grabanlage für gefallene Widerstandskämpfer im mazedonischen Prilep folgte 1959 ein Auftrag der Stadt Mostar für die Errichtung eines Partisanenfriedhofs. Bogdanović ließ für die größte seiner Gedenkstätten am Rande der multiethnisch bewohnten Hauptstadt der Herzegowina beinahe einen halben Hügel abtragen.

Zur Freude des Architekten nahmen und nehmen die Bürger seine Gedenkstätten nicht nur als Orte der Erinnerung, sondern vor allem als alltägliche öffentliche Räume in Besitz: als Spielplätze für Kinder, als Treffpunkte für Jugendliche, für Picknicks oder zum Flanieren. Die Nekropole in Mostar etwa erwies sich als geeigneter Theaterraum, wo Lesungen, Konzerte, ja sogar Opernfragmente dargeboten wurden. „Das größte Kompliment für mich war jedoch, als mich eine junge Dame in Wien angesprochen hat und mir verschämt erzählte, dass ihr Vater und ihre Mutter sie am Partisanenfriedhof von Mostar geschaffen haben“, erinnert sich Bogdanović. Seine intensive Auseinandersetzung mit archaischen Formen wurde angetrieben von der Suche nach einer Symbolik, die weder Schuld zuweist noch die Täter anklagt, die die Opfer nicht idealisiert und ihr Martyrium nicht zusätzlich dramatisiert. So drang er in die Mythologien der frühgeschichtlichen Kulturen Mesopotamiens, Indiens oder Chinas ein, ließ sich jedoch genauso von den Dämonen, Hexen und Vampiren des balkanischen Volksglaubens oder seinen eigenen Träumen anregen. Die zahlreichen Archetypen, auf die der Surrealist dabei stieß, waren Inspiration für die Entwürfe zu vielen seiner zeitlosen, mehrdeutigen Gebilde, die sich nicht dem Intellekt erschließen, sondern an der Seele rühren.

Gerade deshalb aber sind jenen, deren psychische oder auch spirituelle Sensibilität abgestumpft ist – allen Radikalen, Polarisierern und Revanchisten – Bogdanovićs Denkmäler seit je ein Dorn im Auge. Bezeichnenderweise nahm der Bosnienkrieg in Mostar auf dem Partisanenfriedhof seinen Ausgang, als kroatische Extremisten hier im März 1992 die erste Bombe zündeten. Und obwohl in der Stadt an der Neretva inzwischen wieder Frieden herrscht, entladen sich an der Nekropole bis heute nationalistische Aggressionen in Form hasserfüllter Schmierereien und mutwilliger Zerstörungen.

Ein vergleichbares Schicksal widerfuhr Bogdanović' berühmtestem Denkmal, 1966 in Jasenovac eröffnet. An diesem Ort betrieb das faschistische Ustascha-Regime von 1941 bis 1945 das größte von mehr als 25 Konzentrationslagern auf dem Gebiet des kroatischen Marionettenstaats von Hitlers Gnaden. Geschätzte 50.000 Serben, 32.000 Juden, mehr als 10.000 Roma und etwa 8000 kroatische Regimegegner kamen in dem Vernichtungslager ums Leben. Erst Ende der 1950er-Jahre rang sich die politische Führung Jugoslawiens dazu durch, in Jasenovac ein Denkmal zu errichten, und gestand damit ein, dass im sogenannten „Auschwitz des Balkans“ nicht fremde Aggressoren gewütet, sondern eigene Landsleute ihr Brudervolk abgeschlachtet hatten. Auf serbischer Seite gab es zahlreiche Ideen für ein Monument: von Türmen aus reproduzierten Schädeln und Knochen bis hin zu Fontänen, die eine blutrote Flüssigkeit ausspeien sollten. Letztlich aber entschied sich Staatspräsident Tito höchstselbst für den Entwurf von Bogdan Bogdanović – für ein poetisches Denkmal in Form einer 24 Meter hohen „Blume der verheißenen Hoffnung“.

Vertuschung der Wahrheit?

Gleichwohl wurden der Architekt und sein Projekt zur Zielscheibe innerjugoslawischer Konflikte. So gab es in Zagreb schon um die Zeit der Errichtung der Gedenkstätte öffentliche Aufrufe zur Zerstörung „des serbischen Denkmals auf kroatischer Erde“. Die Gemüter beruhigten sich allmählich, als klar wurde, dass der Memorialbau versöhnlichen Charakter hatte. Nun mehrten sich jedoch die Proteste aus Belgrad, wo man Bogdanović vorwarf: „Das ist eine Vertuschung der Wahrheit! Wo bleibt da das Verbrechen?“ Unter den serbischen Extremisten erreichten die Aggressionen gegen das Monument und seinen Architekten kurz vor Ausbruch des Kroatienkriegs 1991 ihren Höhepunkt. Über die staatlichen Medien erklärten selbsternannte Volkstribune, sie würden die Blume von Jasenovac in die Luft jagen.

Nach Kriegsende 1995 ließen nationalistische Politiker im nun unabhängigen Kroatien nichts unversucht, um die Geschichte zu korrigieren. So wurde das KZ von Jasenovac oftmals als Arbeitslager heruntergespielt, und auch das Denkmal erfuhr manch groteske Neuinterpretation. Erst nach dem Tod Franjo Tudjmans 1999 versachlichte sich die Debatte. 2002 wurde die eindrucksvolle Blume aus Beton restauriert und im Jahr darauf im Beisein von Bogdanović erneut der Öffentlichkeit übergeben. 40 Jahre nach ihrer Errichtung kann sie nun erstmals als relativ ideologiefreie Gedenkstätte fungieren. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2008)

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