Stadtporträt: F wie Amstetten

(c) Gerhard Zeillinger
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Kulturstetten, Erlebnisstetten, Genussstetten, Einkaufsstetten, Naturstetten. Das Marketing hat tüchtig gearbeitet, und am Ende ist doch nur von der „Horrorstadt“ die Rede. Der Fall F. und die Angst vor dem „Image“: Stadtporträt eines Amstettners.

In „Amstetten, westlich von Wien“,so konnte man in der „Neuen Zürcher Zeitung“ lesen, war es aneinem Dienstag zu einem „skurrilen, aber glimpflich abgelaufenen Unfall“ gekommen. Eine Frau war mit ihrem Auto treppab in einer Fußgängerunterführung gelandet, die sie für eine Tiefgarage gehalten hatte. Der Vorfall in „Amstetten, westlich von Wien“, schien der Redaktion in Zürich so bemerkenswert, dass sie ihm in der internationalen Ausgabe ihres Blattes einen Zehnzeiler widmete. Das war am 9. Jänner 2008.

Nur wenige Monate später wird die „NZZ“ (und nicht nur sie) neuerlich von Amstetten berichten, wieder geht es um „Untergründiges“, um einen Keller, in dem Menschen gefangen gehalten und die eigene Tochter von ihrem Vater missbraucht wurde, 24 Jahre lang. Es geht um den Fall F. (in den Medien zumeist der „Fall Amstetten“). Die Kleinstadt ist über Nacht weltberühmt; weit mehr als zwei Millionen Google-Einträge hat „Amstetten“ heute. Ja, wenn das irgendwo in Minnesota oder in einer Provinzstadt in Belgien gewesen wäre, aber ausgerechnet in Amstetten, „bei uns“?

Vom Fall F. habe ich am 27. April 2008 auf Sylt erfahren, an einem Sonntag mit prachtvollem Wetter. Ich war gerade erst vom tägli-
chen Strandspaziergang zurückgekommen und schaltete im Fernsehen auf einen der deutschen Nachrichtenkanäle. Als ich das Großaufgebot internationaler Medien aus meinem Heimatort berichten sah, da wurde mir etwas schwummerlich. Die Übertragungswagen fremder Fernsehstationen standen wie aufgefädelt in den Nebenstraßen, auf den Terrassen benachbarter Häuser waren Kameras postiert, über der Stadt kreisten Hubschrauber. Die Bilder erschienen mir so irrational, dass mein erster Gedanke war: Wie gut, dass das alles so weit weg ist!

Natürlich war auch auf der Insel bald von nichts anderem die Rede, im Vorbeigehen las ich Überschriften wie „Die Österreicher und ihre Keller“. In Rantum, wo ich im Kunstraum Syltquelle als Stipendiat zu Gast war, wollte man mich im Büro erst gar nicht darauf ansprechen, bis ich selbst eine ironische Bemerkung machte. „Ja“, begann Ute vorsichtig, „wir haben uns schon gefragt, ist das nicht dieses Amstetten, aus dem du kommst?“ Sie betonte wie alle in Deutschland Amstetten auf der ersten Silbe. Und dann ging's schon los: Ob ich Herrn F. persönlich kenne, ob er wirklich so böse ist, seine Frau, die Kinder... Die Stadt hat 23.000 Einwohner, sagte ich, da kann man Gott sei Dank nicht alle kennen.

Als ich dann am 1. Mai nach Amstetten zurückkam, fand ich eine merkwürdig ruhige, fast verschlafene Stadt vor. Am Bahnhof war wenig los, in der Bahnhofshalle roch es nach Kümmelbraten, ein paar Betrunkene lehnten herum. Nichts Ungewöhnliches, bis mein Blick auf einen Plakatständer der Amstettner SPÖ fiel. Darauf sah man eine rote Nelke, in großen Buchstaben stand „Maifeier“, und darüber klebte ein Papierstreifen mit der Aufschrift: „Abgesagt“. So etwas hat es in Amstetten, wo die Sozialdemokraten mit „satter“ absoluter Mehrheit regieren, seit 1945 nicht gegeben, ein Naturereignis. Tatsächlich schien die Kleinstadtordnung irgendwie aus den Fugen geraten.

Zu Hause blätterte ich kurz die Gratislokalblätter durch, die ich vor meiner Wohnungstür fand, nur wenig war darin vom „Monster“ die Rede, man hielt sich auffallend zurück, ganz im Gegensatz zur sonstigen Geschwätzigkeit. „Eine blühende Stadt“, las ich, sei „unvermutet schwer getroffen worden“. Noch auf Sylt hatte mich eine Mail erreicht mit dem Betreff „Lichtermeer in Amstetten“, in dem es abschließend hieß: „Setzen wir ein Zeichen der Solidarität und Menschlichkeit. Freundschaft!“ Ich verkehre nicht in den „Freundschaftskreisen“, weiß daher nicht, wie ich in den Verteiler geraten bin. Als ich aber die Nachricht überflog, ergriff mich ein leichter Zorn: „Es soll zum Ausdruck gebracht werden, dass von der Sprachlosigkeit zur Zuversicht aufgerufen wird, damit Amstetten wieder an jene schöne Zeit vor Auffliegen dieses Verbrechens anknüpfen kann. “Was, bitte, heißt „sprachlos“? Und wieso fühlen sich plötzlich alle „betroffen“? Weil wir nun die „Horrorstadt“, das „Synonym für das Grauen“ geworden sind? Und wieso soll die Zeit „vor dem Auffliegen“ so „schön“ gewesen sein? Die Zeit davor, das waren doch 24 Jahre Kerker, Vergewaltigung, Sklaverei. Seltsam, was sich eine Stadt so wünscht.

Umgekehrt sollte der „Fall Amstetten“ ausgerechnet hier keiner sein. „Aus Respekt vor der Amstettner Bevölkerung“ und vor „dieser schönen Stadt“, ließ unser Bürgermeister in Leserbriefen verbreiten, möge der „Fall Amstetten“ künftig als „Fall F.“ behandelt werden. Diese Sprachregelung blieb freilich ein frommer Wunsch. Für die Medien waren wir wochenlang „das Böse“: „Amstettner Bestie“, „Kampusch 2“ – „das Böse hinter der Thujenhecke“, es war real geworden, es lauerte in Amstetten, so wie einem die Reporter wochenlang praktisch überall auflauerten: vor Schulen, Kirchen, in Geschäften. Oder aus Redaktionsbüros auf uns losschlugen: Die Gemeinde Amstetten mit ihren Bewohnern „möge in Scham versinken“, ließ etwa die Tageszeitung „Österreich“ wissen. Andere schämten sich wegen uns, Österreicher zu sein.

Unter den vielen Postings im Internet las ich: „Amstetten verdient den ,schlechten Ruf‘!“ Auf YouTube konnte man unter„Traumziel Amstetten“ ein Video abrufen, das das „Horror-Haus“ von Josef F. zeigte. „Geschmacklos“, urteilte sogar das Gratisblatt „Heute“, das seine Leserbriefe nur noch mit „Amstetten“ betitelte und durchnummerierte. Irgendwann ging der Überblick verloren.

Die Angst vor dem Imageschaden wenige Wochen vor der Euro 08 war groß. Plötzlich fanden sich mehr als 300 Journalisten in Amstetten zusammen und suchten nach Abgründigem. Bereits bei der ersten Pressekonferenz in einem Amstettner Hotel – bei der die Reporter mit „Welcome here in Vienna“ begrüßt wurden – wollte ein englischsprachiger Berichterstatter wissen, was denn hierzulande faul sei. Der damalige Bundeskanzler ließ ausrichten, dass nun an „Konzepten“ gebastelt werde, die Österreich „wieder ins rechte Licht rücken“ würden. Vollmundig verkündete er bei der Maifeier am Wiener Rathausplatz: „Wir lassen nicht zu, dass ganz Österreich...“ – in der Diktion fast identisch mit den Abwehräußerungen heimischer Politiker nach Verhängung der EU-Sanktionen im Jahr 2000. „Wir lassen uns unser schönes Land nicht miesmachen!“ Wären wir selbstbewusste Staatsbürger, wir würden uns an solchen Reden wahrlich nicht begeistern müssen. Oder wie klingt das: „Wir sind keine Stadt der Verbrecher“, und: „Bei uns in Amstetten, da stimmte das Leben doch noch“? Der Bürgermeister: aus dem Fenster blickend, seufzend. Er habe, gestand er später, oft „mit den Tränen gekämpft“.

Die Amstettner Charme-Offensive war zumindest geschickt eingefädelt: In jede Rathaus-E-Mail wurden Links eingehängt, die auf die Tourismusregion Amstetten aufmerksam machen sollten: „Wir sind ein liebenswertes Fleckerl Erde.“ Unterm Strich blieben wir trotzdem der „Fall Amstetten“. Und einer für die Titelblätter. Man sah Ortsschilder von Amstetten, durchgestrichen, was so viel wie „Ortsende“ bedeutete. Die Wiener Stadtzeitung „Falter“ titelte überhaupt: „Amstetten, Ybbsstraße 40“, und alle wussten: Das ist die Adresse des Bösen. Das Böse, das „mitten aus dem Hügelland der Unscheinbarkeit“ kommt. Einfach Amstetten, Mostviertel, Alpenvorland. Gefährlich. Unauffällig. Bieder. Also unfassbar.

Jahrelang hatte man versucht, ein Image aufzubauen, aus der grauen Eisenbahnerstadt den „Pulsschlag des Mostviertels“ zu machen. Unsummen wurden in Marketing investiert, man kreierte „Kulturstetten“, „Erlebnisstetten“, „Genussstetten“, „Einkaufsstetten“, „Naturstetten“, und am Ende ist doch nur von der „Horrorstadt“ die Rede, Einzelfall hin oder her. „Sind wir Amstetten?“, fragte „News“. Aber ich weiß nicht, ob uns die Verallgemeinerung helfen könnte.

Das Verbrechen, haben uns Medien vorgeworfen, habe sich in der „Vorstadt einer Provinzstadt“ ereignet, in einer „gesichtslosen“ Vorstadt. In der Tat ist der Ort des Verbrechens ein Graubereich zwischen urbaner und ländlicher Kultur. Genau das ist auch die schwierige, diffuse Position von Amstetten, das weder urban noch ländlich ist, und damit korrespondiert auch die soziale Struktur von proletarisch bis kleinbürgerlich. Industriestadt, Gewerbeparks, Einkaufszentren und Durchzugsverkehr. Architektonisch unansehnlich und langweilig. Oder, wie es eine britische Zeitung formulierte: „ekelerregend vorstädtisch“. – „Er hat immer freundlich gegrüßt“, lese ich. Ich kenne Herrn F. nicht. Eine Amstettnerin erzählte mir, wie sehr ihre Mutter einst für den jungen F. geschwärmt habe, der sei schon einer gewesen, der nicht zu übersehen war, ein toller Typ. Irgendwann fragte ich mich, was gewesen wäre, wenn Herr F. in die Politik gegangen wäre. Wäre er vielleicht sogar Bürgermeister von Amstetten geworden, so gut, wie er angeblich überall ankam?

Natürlich wäre es nicht uninteressant, in die Morphologie dieser Stadt ein wenig vorzudringen, ihre Tiefenschichten zu ergründen. Doch das überlässt man lieber ausländischen Reportern – und nimmt es ihnen gleichzeitig übel. Oder übt sich, weil das immer gut ankommt, in „Betroffenheit“. Aber die hat ihre Grenzen, genauso wie die vermeintliche Sprachlosigkeit. Im Gegenteil. Von „Kastrieren“ war viel die Rede, von „Aufhängen“, nur dass das nichts Besonderes ist. Das mit dem Aufhängen habe ich in Amstetten schon öfter gehört. Als 1984 die Hainburger Au friedlich besetzt wurde, kam ich an einer Gruppe Pensionisten vorbei. „Die gehören ja alle aufg'hängt“, meinte eine Frau, die Männer haben heftig genickt. Jahre später in einem gutbürgerlichen Wirtshaus, an einem einschlägigen Stammtisch, an dem sich honorige Bürger zum geselligen Gedankenaustausch treffen – bis das „Politisieren“ dann wieder einmal ausartet und der Satz fällt: „Die Juden gehören alle aufgehängt!“ Auf Nachfrage wurde das Gesagte nicht einmal in Abrede gestellt.

Am Abend der Nationalratswahl 2006 wurde ich bei der Bezirkswahlbehörde Ohrenzeuge einer Diskussion zwischen SPÖ- und ÖVP-Funktionären, die sich den Wahlerfolg der Rechten mit der verfehlten Ausländerpolitik ihrer Parteien erklärten, nur weil die sich einfach nicht trauen würden zu sagen, was Sache sei. Einer der Funktionäre hat es dann doch getan: „Was sollen wir denn machen, die Ausländer werden immer mehr, und wir können sie ja nicht vergasen.“ Ich weiß nicht, ob der Satz auf einhellige Zustimmung fiel, ich habe nur nichts Gegenteiliges gehört. Wenn zwei Jahre später aber ein Boulevardblatt über Josef F. titelt: „Er drohte Opfern mit dem Vergasen“, ist die Empörung groß.

Als Jugendlicher habe ich hier alte Männer gesehen – es gibt sie überall –, die glänzende Augen bekamen, wenn sie vom Dritten Reich erzählten. Die meisten von ihnen sind schon gestorben. Aber was ist aus den Skinheads von damals geworden, die ich eines Abends vor dem Bahnhof minutenlang habe „Sieg Heil!“ rufen hören, mit ausgestrecktem Arm? Dass Amstetten damals ein Neonazi-Problem hatte, war sogar der Lokalpresse aufgefallen. Die Behördenvertreter – dieselben, die beim Fall F. schon am ersten Tag verkündet haben, es sei alles ordentlich abgelaufen – sprachen von „dummen Buben“, als wäre so etwas eben eine pubertäre Erscheinung. Jahre später sind die „dummen Buben“ dann doch ein Fall für das Gericht geworden: Auf einem Zeltfest wurde ein Jugendlicher zu Tode getreten, direkt im Stadtzentrum wurde ein Obdachloser erschlagen.

Es ist in Amstetten passiert. Aber es hätte genauso gut in Bruck an der Mur, in Grieskirchen, in Landeck passieren können. Auch das Verharmlosen und Wegsehen. Und natürlich hätte sich auch der Fall F. überall ereignen können. Aber geschehen ist er eben hier bei uns – in einer „bekannten Nazihochburg“, wie eine englische Boulevardzeitung schrieb. Man wird Geschichte nie los. – Sofort wurden Vergleiche mit anderen Missbrauchsfällen gezogen, Namen anderer „Schreckensorte“ ins Spiel gebracht. Strasshof selbstverständlich, Gralla ja, meinetwegen auch Braunau. Aber Mauthausen? Nur weil in Amstetten 1945, für wenige Wochen, zwei Außenlager des KZ Mauthausen bestanden haben? Für viele ausländische Medien war es eine ganz simple Gleichung: Österreich habe seine Nazi-Vergangenheit in den Untergrund verdrängt, nun ist diese aus dem Keller des Herrn F. hochgekommen. Genau darauf zielte die Deutungshoheit vieler Zeitungen ab, und in Amstetten war man dafür offenbar am richtigen Ort.

Am 2. Mai erhielt ich einen Anruf aus dem Rathaus, ich solle in einer halben Stunde kommen, zu einem Interview, ein englisches Reporterteam wolle etwas über 1938 machen. Ganz allgemein, hieß es, und auf mein Nachfragen: Nein, mit dem Fall F. habe das nichts zu tun. Ich ging natürlich nicht ins Rathaus und habe den Interviewtermin ignoriert, ich wusste, warum.

Tags darauf titelte die britische „Sun“: „Evildad F. and the Nazis“. Darunter sah man ein Foto Hitlers bei seiner umjubelten Durchfahrt durch Amstetten am 14. März 1938, das wie ein Beweis in den Bericht gesetzt wurde. Denn damals („it is believed“) sei auch Josef F. mit seiner Familie auf den Hauptplatz gegangen, um den „Führer“ zu begrüßen. Der noch nicht einmal dreijährige F. ein Supernazi?

In der Tat kann man den Bürgern von Amstetten einen ziemlich schlampigen, ignoranten Umgang mit ihrer eigenen Geschichte vorwerfen. Hitler ist bis heute Ehrenbürger der Stadt, und auch die Hitler-Eiche vor der Jahn-Turnhalle steht noch. Nur, was hat das mit Josef F. zu tun? „Nicht anders als Josef F. waren NS-Mörder und Henkersknechte unauffällige, freundliche Nachbarn“, sah sich der Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ bemüßigt anzumerken. Heißt das, dass alle freundlichen Menschen, insbesondere wenn sie Amstettner sind, nun als besonders verdächtige Personen betrachtet werden müssen?

1995 haben wir „jungen Historiker“ (diesen Vorwurf habe ich heute noch im Ohr) in Form einer Ausstellung versucht, Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen, was bereits im Vorhinein zu merkwürdigen Auseinandersetzungen geführt hat. Als wir unsere zeitgeschichtliche Ausstellung auf dem Hauptplatz von Amstetten eröffneten, wurden wir von einem FPÖ-Mandatar fotografiert. Die Bilder wollte er später einmal – „nach der Wende“ –, so sagte er, seinen Enkelkindern zeigen, als Beweis, dass er 1995 „auf der anderen Seite“ gestanden sei. Ob Herr K. seinen Enkerln schon die Fotos gezeigt hat, triumphierend? – Oder Frau K., Amstettner Volksschullehrerin mit krausem Geschichtsbild: Nicht die Deutschen, sondern die Engländer hätten den Zweiten Weltkrieg begonnen, meinte sie damals, doch dürfe die „Wahrheit“ aufgrund der Verbotsgesetze ja nicht gesagt werden... Frau K. musste sich nicht nur den Vorwurf von „neonazistischem Gedankengut“ gefallen lassen, sie wurde sogar aus ihrer „Gesinnungsgemeinschaft“ ausgeschlossen. Heute ist sie dennoch FPÖ-Chefin in Amstetten und fällt weiter durch merkwürdige Äußerungen auf. Jüngst beklagte sie, dass die fünf weiblichen Mitglieder der gegenwärtigen Bundesregierung zusammen nur drei Kinder hätten, während sie selbst sowie Barbara Rosenkranz und eine Mostviertler FPÖ-Nationalrätin insgesamt 17 Kinder vorweisen könnten. Was aber, frage ich mich, ist das schon gegen Josef F., der es allein auf 14 Kinder gebracht hat.

Das alles hätte genauso gut in Bruck an der Mur oder in Landeck passieren können. Auch der Fall F. Aber geschehen ist er eben hier bei uns. Und als ob es noch eines Beweises bedurfte, konnte man eine Woche nach Bekanntwerden des Falles in den Zeitungen lesen, dass ein 57-Jähriger, er hatte seit dem Jahr 2003 seine damals 11-jährige Tochter regelmäßig missbraucht, zu fünf Jahren Haft verurteilt worden sei. „Der Täter ist Amstettner.“

Doch dann kam der Hackenmörder, der Ehefrau, Tochter, Eltern und Schwiegervater umbrachte, und als am 14. Juni italienische Zeitungen schrieben: „Auch Italien hat sein ,Amstetten‘“, machte sich fast Erleichterung breit: In Kampanien war eine Frau 18 Jahre lang von ihrer Familie gefangen gehalten worden, weil sie ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte.

Endlich, wir waren aus den Schlagzeilen! Es wurde ruhig bei uns, und irgendwann verschwanden auch die internationalen Fernsehteams. Spätestens im Sommer, als die Musicalsaison begann, war wieder Normalität angesagt. „Aida The Timeless Love Story“ von Elton John. Fast 14.000 Besucher, Jubel, Begeisterung. Nur die „weibliche Bevölkerung“ blieb sensibilisiert: „In Amstetten ist ein Wahnsinniger unterwegs“, wurde im September eine E-Mail-Warnung verbreitet, nachdem zwei Frauen von einem „Sexstrolch“ aufgelauert worden war.

Aber auch das hat sich wieder gelegt. Seit ein paar Wochen registriere ich vermehrt Neonazi-Aufkleber im Stadtgebiet. Und vor Weihnachten ist auch wieder einer der Glaszylinder beim „Judendenkmal“ zerschlagen worden. Das geht nun schon seit ein paar Jahren, stillschweigend wird das zerstörte Glas ersetzt, in den Zeitungen ist davon nichts zu lesen. Dafür hat die Imagekampagne erste Erfolge gebracht. Sogar aus China und den Arabischen Emiraten habe es positives Feedback gegeben, verkündete kürzlich der Bürgermeister. „Alle schwärmen, wie schön es bei uns ist.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2009)

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