Zu dritt auf zwei Füßen

Minuziös vergegenwärtigte sich Andreas Latzko das Grauen, dem er an der Front traumatisiert entronnen war. „Menschen im Krieg“ – ein Novellenzyklus, der bezeugt, was der Krieg wirklich ist: ein einziges Malträtieren, Verstümmeln und Abschlachten.

Der 1876 in Budapest geborene Andreas Latzko war ein österreichischer Offizier, den der Krieg zum Pazifisten machte, und ein international erfolgreicher Schriftsteller, der noch zu Lebzeiten vergessen wurde. Berühmt wurde er mit dem Novellenzyklus „Menschen im Krieg“, der während des großen Krieges 1917 in einem Schweizer Verlag erschien, in Österreich und Deutschland verboten, in viele Sprachen übersetzt und von Karl Kraus mit den Worten gerühmt wurde, dass eines Tages „Österreich darauf stolz sein wird, dass es auch durch diese Tat am Weltkrieg beteiligt war“.

Latzko stammte aus wohlhabendem Haus, die Eltern – der Vater, ein Bankdirektor, war Ungar, die Mutter gebürtige Wienerin – hätten den Sohn gerne in Ungarn als Geschäftsmann gesehen. Der vorgezeichneten Laufbahn entfloh er, indem er 1901 zum Studium nach Berlin übersiedelte, wobei er, der seine ersten literarischen Versuche auf Ungarisch unternommen hatte, auch die Literatursprache wechselte und seine Romane, Erzählungen, Theaterstücke künftig auf Deutsch verfasste. 1914 wurde der Reserveoffizier in Wien zur Armee eingezogen, 14 Monatekämpfte er am Isonzo, dann brach er zusammen, sechs Monate lang soll er nicht aufgehört haben, am ganzen Leib zu zittern.

Zur Kur in die Schweiz geschickt, setzte er statt auf das Morphium, mit dem er behandelt wurde, auf die Literatur, mit der sich selbst zu heilen versuchte. Minuziös vergegenwärtigte er sich das Grauen, dem er in zappelnde Not entronnen war, in ebenjenen Texten, die er dann zu „Menschen im Krieg“ vereinte, einem Band, den er zuerst anonym veröffentlichte und erst ab der dritten Auflage mit seinem eigenen Namen zeichnete, was ihn in Österreich vors Gericht gebracht hätte und um Asyl in der Schweiz ansuchen ließ.

Der Bogen des Zyklus ist vom „Abmarsch“, so der Titel der ersten Novelle, bis zur „Heimkehr“, von der die sechste und letzte handelt, gespannt. Dazwischen wird von der Front erzählt, vom Grabenkampf, von Granaten, die die Leiber zerfetzen, von toten Soldaten, aufgeschlichtet wie „zusammengetragene Bretter und Traversen auf einem Bauplatz“, von Menschen, die im Schützengraben warten, aber ohne Kopf, der ihnen beim Einschlag eines Mörsers von den Schultern gerissen wurde... Es sind schauerliche Bilder, mit denen Latzko bezeugt, was der Krieg wirklich ist, ein einziges Malträtieren und Verstümmeln und Abschlachten, die Reduzierung des Menschen auf Klumpen von zerstückeltem, verbranntem Fleisch... Streckenweise sind die Geschichten in einer atemlos gehetzten Sprache abgefasst, mit unvollständigen Sätzen, drastischen Szenen; sarkastisch wird der Ton, wennder Erzähler die Gedanken schneidiger Offiziere oder ruhmsüchtiger Feldherrn in erlebter Rede wiedergibt. In „Der Abmarsch“ sitzen im Garten eines Lazaretts in der österreichischen Provinz einige hochwohlgeborene Offiziere beisammen. Drei einfache Soldaten schleppen sich an ihnen vorbei: „Sie krochen, zu dritt, auf zusammen zwei Füßen und sechs klappernden Krücken. Als hätten Regisseurhände, ängstlich um Symmetrie besorgt, das lebende Bild gestellt, ging rechts einer, der nur sein rechts Bein behalten hatte, links sein Pendant, auf dem linken Fuße hüpfend; und in der Mitte schaukelte, zwischen zwei hohen Krücken, der armselige Rest eines Menschenleibes, die leeren Hosenbeine übers Kreuz auf die Brust gesteckt, so kurz, dass der ganze Mann in einer Kinderwiege Platz gefunden hätte.“

Die Offiziere wetteifern mit Anekdoten, wer von ihnen noch Grässlicheres auf dem Schlachtfeld erlebt hat. Da mischt sich endlich ein für verrückt erklärter Offizier ein, der behauptet, das Schlimmste sei gar nicht der Krieg selbst gewesen, sondern der Auszug aus Garnison und Stadt, als die fesche Musikkapelle aufspielte: „Der Krieg ist, wie er sein muss. Hat's dich überrascht, dass er grausam ist? Nur der Abmarsch war die Überraschung. Dass die Frauen grausam sind, das war die Überraschung! Dass sie lächeln können und Rosen werfen, wenn sie ihre Männer hergeben, ihre Buben hergeben, die sie tausendmal ins Bett gebracht haben... Kein General hätt' was machen können, wenn die Frauen uns nicht hätten in die Züge pfropfen lassen.“

Die Frauen, für Latzko wie für seinen verzweifelten Protagonisten wären sie berufen gewesen, den militaristischen Phrasen der Männer zu widerstehen; als die letzten Tage der Menschheit ausgerufen wurden, hätten wenigstens sie, die Lebensspenderinnen, auf dem Leben beharren müssen. Was für eine merkwürdige Sicht auf die Männerwelt! Die Frauen, gescheiter und moralisch besser entwickelt, sollen sie richten.

Die Wirkung von Latzkos expressionistischer Antikriegs-Dichtung war enorm. Doch als er nach dem Krieg nach Österreich zurückkehren konnte, wurde das Geld, das von den Tantiemen seiner Novellensammlung hereinkam, rasch von der Inflation aufgefressen. In den 1920-Jahren lebte er in Salzburg, vielleicht weil ihm Hermann Bahr und Stefan Zweig ihre Unterstützung zugesagt hatten; eifrig belieferte er von hier aus alle möglichen Zeitungen im In- und Ausland mit Artikeln. Trotzdem wurde seine finanzielle Lage so bedrückend, dass er 1931 mit seiner georgischen Ehefrau nach Amsterdam übersiedelte, wo sein Stiefsohn in gesicherter Position lebte und ihn fortan unterstützte. Seinen letzten Roman, „Lafayette“, stellte er in Holland fertig, der verblassende Ruhm des Autors war damals noch groß genug, dass dieses Buch, das in den Ereignissen der Französischen Revolution die Krisen der Gegenwart spiegelt, gleichzeitig auf Deutsch, Französisch, Englisch und Niederländisch herauskam. Es ist schwer zu verstehen, dass ein so renommierter Autor dem Gedächtnis der Literatur so rasch und gründlich verloren gehen konnte. Andreas Latzko starb 1943 in Amsterdam, wo postum seine Autobiografie „Levensreis“ herauskam, die bis heute nicht auf Deutsch veröffentlicht wurde, wie ja keines seiner Bücher nach 1945 wieder aufgelegt, der Autor selbst zum Geheimtipp kundiger Antiquare wurde.

Nun hat Hans Weichselbaum „Menschen im Krieg“ neu ediert und mit einem umfangreichen Nachwort versehen, für das er alles zusammengetragen hat, was sich an Informationen über den Verschollenen nur hat finden lassen. Mit diesem endlich wiederentdeckten Buch hat sich Andreas Latzko in eine Reihe mit Autoren wie Henri Barbusse, Romain Rolland, Leonid Andrejew, Blaise Cendrars gestellt, die noch während des Ersten Weltkriegs literarischen Gerichtstag über diesen, seine Hetzer und Profiteure hielten. ■

Geboren 1954 in Salzburg. Autor, Literaturkritiker, Herausgeber von „Literatur und Kritik“. Zuletzt im Otto Müller Verlag: „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“.

Andreas Latzko

Menschen im Krieg

Mit einem Nachwort von Hans Weichselbaum. 186 S., geb., € 20,90 (Milena
Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2014)

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