Der Islam muss beginnen, sich neu zu deuten

Auch die katholische Kirche hat Fehlorientierungen aufgegeben und dem jahrtausendealten Antisemitismus abgeschworen.

Zwar ist der Brennpunkt des islamistischen Terrors derzeit Frankreich. Aber die Mordbrigaden im Namen Allahs haben bereits ganz Europa, die hier lebenden Juden und die Werteordnung des demokratischen Systems des Westens insgesamt im Visier. Ihr strategisches Ziel ist die Radikalisierung, Polarisierung und damit Destabilisierung europäischer Gesellschaften.

Der radikale Islamismus, etwa in Gestalt des Islamischen Staats (IS), bedient sich eines engen, hermetisch geschlossenen und „kohärenten ideologischen Konzepts“ (Matthias Küntzel). Dieses ist aufgrund des unterstellten göttlichen Ursprungs mit einem absoluten Wahrheitsanspruch versehen und entzieht sich daher auch jeder kritischen Infragestellung. Diesen Umstand muss man vor Augen haben, wenn man sich auf das dünne Eis der Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus begibt. Islam – so die gängige Interpretation – sei die Religion und Islamismus deren, zu einer totalitären Ideologie pervertierte Form.

Also habe der Koran weder mit dem Islamischen Staat noch mit der al-Qaida oder anderen Terrororganisationen, die sich auf den Koran berufen, zu tun. Vielmehr würden Koran und Islam von diesen fanatischen und von Hass getriebenen Gruppierungen missbraucht werden.

Unglaubwürdige Distanzierung

Wenn diese Unterscheidung so einfach wäre, hätten sich die obersten religiösen Führer und führenden Gelehrten des Islam längst schon auf eine religiös begründete und eindeutige Verurteilung und Ächtung dieser islamistischen Gruppierungen geeinigt. Das Problem ist nur – worauf der deutsche Politologe und Publizist Küntzel aufmerksam macht –, dass gerade der IS bestrebt ist, seine Handlungen religiös und buchstabengetreu zu legitimieren – er missbraucht den Islam also nicht, sondern er „interpretiert ihn auf bestimmte Art und Weise“.

Was Islamkritiker wie Matthias Küntzel, Hamed Abdel-Samad und andere klarzumachen suchen, ist, dass der radikale Islamismus nicht neben oder gar gegen den Islam agiert, sondern auf dessen Grundlage. Aus diesem Umstand folgert Küntzel richtigerweise: „Es reicht also nicht, die vom IS gewählte Interpretation des Koran zu kritisieren. Um den neuen Totalitarismus zu bekämpfen, muss der Koran in seiner Gänze neu gedeutet und die von den Terroristen gewählte Lesart ausgeschlossen und in den Moscheen geächtet werden.“ Küntzel zitiert in diesem Zusammenhang den türkischen Islamwissenschaftler Ednan Aslan, der vor Kurzem im Hamburger Wochenblatt „Die Zeit“ meinte: „Wir muslimische Theologen müssen endlich den Mut haben zu sagen, dass bestimmte Interpretationen des Islam falsch sind. Inakzeptabel. Das tun wir aber nicht. Wir Muslime distanzieren uns heute vom Islamischen Staat. Aber solange wir uns von der dazugehörigen Theologie nicht distanzieren, machen wir uns unglaubwürdig.“

Es gibt keinen anderen Weg als den einer radikalen, also an die theologischen Wurzeln gehenden Selbstanalyse. Es sei denn, man setzt – wie nicht wenige Kritiker des Islam – auf die Selbsterledigung des Problems durch einen auch in der islamischen Welt wachsenden säkularen Atheismus und atheistischen Pragmatismus.

Wer darin aber keine anzustrebende Option sieht, weil die Negation eines Göttlichen in der Welt weder die Welt noch die Menschen besser macht, der müsste alles daransetzen, den Widerspruch zwischen den Werten des Glaubens und den fundamentalen Menschenrechten zu vermeiden. Das gilt für jede Religion.

Langer, schmerzvoller Prozess

Die Alternative zum Atheismus ist nicht das gewaltsame und Gewalt bringende Festhalten am geistigen Mittelalter. Religiöser Glaube lässt sich mit Selbstmordattentaten, dem Abschlagen von Köpfen oder Vergewaltigungen weder begründen noch verteidigen. Kurz: Der Islam muss beginnen, sich neu zu deuten, will er nicht in der Mitverantwortung stehen für das Blutbad, das in seinem Namen – missbräuchlich oder nicht – nahezu täglich angerichtet wird.

Dieser Prozess kann nur von den religiösen Führern und Gelehrten des Islam selbst auf den Weg gebracht werden. Der Druck dazu wird von den aufgeklärten Muslimen kommen müssen.

Das ist, wie wir aus der wechselvollen Geschichte des Christentums wissen, ein langer, schmerzvoller Prozess. Vor 50 Jahren hat die katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil selbst einen solchen Prozess kritischer Selbstprüfung eingeleitet. Am Ende wurde mit „Nostra Aetate“ am 28. Oktober I965 das wichtigste und revolutionärste Dokument des gesamten Konzils veröffentlicht.

„Theologie der Verachtung“

In diesem Dokument bestimmt die Kirche ihr Verhältnis zu den nicht-christlichen Religionen, insbesondere zur jüdischen Religion, neu und positiv. Der durch zwei Jahrtausende hindurch betriebenen „Theologie der Verachtung“ der Juden erteilte das Konzil eine deutliche Absage.

Gerade diese theologische Fehlorientierung richtete unermessliches Leid an: Sie untermauerte nämlich nicht nur jenen unheiligen „Heilstriumphalismus“ der Christen durch die Geschichte hindurch, sondern diente gleichermaßen auch zur religiösen Begründung und Rechtfertigung der Verfolgung und Vernichtung der Juden – bis hin zur Shoah. Mit dieser schuldhaften Tradition hat die Kirche also vor einem halben Jahrhundert gebrochen.

Gewiss: Der Islam hat keine der katholischen Kirche vergleichbare Struktur. Aber er steht auf seine Weise ebenfalls vor der drängenden Herausforderung der Selbsterneuerung. Von diesem dialektischen Prozess von Bewahrung und Erneuerung ist keine Religion ausgenommen. Auch nicht davon, ständig überprüfen zu müssen, ob nicht Anspruch und Wirklichkeit zu sehr auseinanderdriften.

Wir erleben in Europa, wie sehr dies gerade für den wieder hoffähig gewordenen Antisemitismus zutrifft: Heute ist durchschnittlich jeder vierte Europäer antisemitisch eingestellt (ADL 20I4). Auf Deutschlands Straßen wird bei Anti-Israel-Demonstrationen „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ skandiert. „Nostra Aetate“ war ein kühner erster Schritt, aber er reichte nicht aus, um gegen die antisemitische Seuche zu immunisieren.

Ein Anlass zum Nachdenken

Jedes Jahr am I7. Jänner begehen die Kirchen Österreichs den Tag des Judentums. Ein guter Anlass, darüber nachzudenken, was aus der vatikanischen Judenerklärung vor 50 Jahren geworden ist. Und auch ein guter Anlass, sich nach dem Schock des islamistischen Terrors in Paris vorzustellen, wie Juden in Israel mit dieser exzessiven Gewaltbereitschaft vor ihrer Haustüre tagtäglich zu leben haben...

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Maximilian Gottschlich (*1948 in Wien) ist em. Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Uni Wien. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema jüdisch-christlicher Versöhnung. Zuletzt erschien sein Buch „Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich? Kritische Befunde zu einer sozialen Krankheit“ (Czernin 20I2). [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.