Ein Tag mit Susanne

Die Breits waren eine jüdische Familie in Krems an der Donau. Eine besondere Familie, denn mit den Breits hat alles begonnen. Eine Spurensuche zwischen Krems und Basel.

Heuer wird Susanne 85 Jahre alt. Das wird ein besonderes Fest im Haus Verzar in Arlesheim bei Basel. Susanne ist eine historische Persönlichkeit. Im Sonnenhof ist sie die zweitälteste Bewohnerin, seit dem 10. Dezember 1938 wohnt sie hier. Sie hat noch Dr. Ita Wegman, die das erste Klinisch-Therapeutische Institut 1920 in Arlesheim gegründet hatte, ein Ständchen dargebracht. Frau Dr. Wegman hatte mit Rudolf Steiner gearbeitet. Der Sonnenhof und das Haus Verzar, benannt nach Fritz Verzar, einem experimentellen Gerontologen, haben neue Dimensionen für die Heilpädagogik eröffnet. In der Villa Verzar wohnen heute sieben Menschen, die physisch oder psychisch beeinträchtigt sind, sie werden liebevoll betreut. Der Sonnenhof und das Haus Verzar sind Einrichtungen, die nach anthroposophischen Gesichtspunkten geführt werden. Besuch hat Susanne seit 1938 nicht oft bekommen, ihre Eltern, Dr. Paul und Sabine Breit (der Familienname wurde auf Wunsch geändert), haben sie im Heim untergebracht, denn ein Mädchen mit Behinderung hätte nie ein Visum für die USA bekommen.

Die Breits waren eine jüdische Familie in Krems an der Donau in der Wachau. Eine besondere Familie, zumindest für mich, dennmit den Breits hat alles begonnen, hat meine Geschichte als Historiker begonnen. Meine Großmutter war Haushaltskraft bei den Breits. Als die Nazis an die Macht kamen, haben sie es Dr. Breit heimgezahlt. Einer der Nazis aus Krems hatte einen Prozess verloren, in dem der Rechtsanwalt Dr. Breit die Gegenseite vertreten hatte. Der März 1938 hat die Karten neu gemischt. Ein „außergerichtlicher Vergleich“ war möglich, wir nennen es besser eine Wachauer Prügelei. Der Nazi wollte sein Recht und schlug zu, meine Großmutter musste das Blut aufwischen. In Krems waren solche Geschichten, die mit Mitgefühl für die Opfer vorgetragen wurden, selten zu hören. Ich habe sie gehört, und für mich waren sie „Raubersgeschichten“, an dieich immer denken musste, wenn ich an diesem Haus vorbeikam. Die Nazis waren nicht irgendwo, sondern hier in der Stadt, hier hatten sie geprügelt, hier hatte alles begonnen. Die Geschichte kennt jedoch nicht nur schwarz und weiß, gut oder braun.

Irgendwann bin ich draufgekommen, dass mein Großvater bei der illegalen SA war, während seine Frau bei „dem Juden“ arbeitete. Ich weiß nicht mehr, ob es das Foto mit der Lederhose und den weißen Stutzen war oder die Geschichte über den Sprengstoffanschlag auf den Steiner Pfarrhof, die mir die Augen öffnete? Das halbe Portal des Pfarrhofes war weggesprengt worden. In den Dreißigerjahren gab es Bölleranschläge jeden Tag, nicht nur in Krems, kirchliche Einrichtungen waren im Visier der Nazis, so auch die Englischen Fräulein auf dem Hohen Markt. Warum dieser Hass? Die Kirche hatte im Austrofaschismus eine besondere Stellung, ohne die Kirche ging nichts. Mein Großvater war arbeitslos und wollte einen dieser Ein-Schilling-Jobs, mit solchen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurde zum Beispiel die Straße auf den Kreuzberg hinter Krems angelegt. Um die Arbeit zu bekommen, war die Unterschrift des Pfarrers notwendig. Mein Großvater ging zu ihm, dieser wusste um die prekäre Situation der Familie, die Großeltern hatten bereits drei Kinder. Der Pfarrer meinte nur: „Dich habe ich noch nie in der Kirche gesehen“ und verweigerte die Unterschrift. „Als sie dem Steiner Pfarrer das Portal weggesprengt haben, da hat es mich gefreut.“ Auch mit diesem Satz bin ich aufgewachsen.

Als meine Großmutter schwanger war, hat ihr Mann Josef ihr bei den groben Arbeiten im Haus Breit geholfen, zum Beispiel beim Ausklopfen der Teppiche. Als Josef die Teppiche aus dem Fenster beutelte, kamen einige Bekannte von ihm, vielleicht von der SA, vorbei und riefen. „Peppi, du kannst doch nicht bei einem Juden arbeiten!“ – „Ich arbeite hier ja nicht, ich helfe nur meiner Frau“, war seine Antwort.

Die Familie Breit spielt in unserer Familiengeschichte eine besondere Rolle. Nicht nur wegen der räumlichen Nähe, nicht nur wegen der Arbeit meiner Großmutter. Die Breits hatten nur Mädchen, keine Buben. Dr. Breit hatte meine Großmutter zu überzeugen versucht, einer Adoption meines Vaters zuzustimmen. Er hätte es gut bei ihnen, und sie könnten ihm bessere Zukunftschancen bieten. Zur Adoption kam es nicht, und spätestens 1938 war klar, dass die Möglichkeiten der Juden in Österreich nicht auf null, sondern auf minus 100 gesunken waren.

Die Breits sind dennoch ein Teil unserer Familie, irgendwie. Alle noch lebenden jüdischen Familien aus Krems konnte ich in den vergangenen 25 Jahren ausfindig machen, fast alle konnte ich besuchen bei meiner Recherche oder zumindest mit ihnen in Kontakt treten. Nur bei den Breits stieß ich auf Sackgassen oder ungültige Adressen. Cedar Grove zum Beispiel. Ein Foto gab es, denn Renate, eine Tochter von Dr. Breit, war nach Krems gekommen und hatte das Haus, das ihnen geraubt worden war und das sie zurückbekommen hatten, verkauft, lange nach 1945. Es ist eine weitere Ironie der Geschichte, dass um dieses Haus in der Nazizeit ein Streit entbrannt war. Die Hitlerjugend war hier einquartiert, der Gauamtsleiter für Rassepolitik in Niederdonau, Dr. Dyk, beanspruchte es ebenfalls für sich. Die Geschichte ist nicht zu Ende, sie macht nur manchmal Pause.

Jahre nach der Publikation meines ersten Buches über die Juden von Krems, es muss in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gewesen sein, traf die Besitzerin des Hauses meine Mutter in der Stadt. Sie habe das Buch erst jetzt gelesen, sie sei entsetzt gewesen, schrecklich was mit den Juden passiert sei, fürchterlich und die Kinder ... aber der Dr. Breit, der sei schon ein „Saujud“ gewesen. Die gute Frau war übermannt, und Trauer und Hass sind Nachbarn, sicher nicht nur in Krems. Meiner Mutter war dies mehr als peinlich. Ich rief die Frau noch am selben Tag an, sie lud mich zum Tee. Langsam tastete ich mich vor, bis der Satz fiel. „Das mit dem Dr. Breit, das habe ich schon Ihrer Mutter erzählt, der war schon ein S...jud“, sie senkte die Stimme, die Enkelkinder, die im Zimmer spielten, wollten es aber genau wissen. „Was hast g'sagt, Oma?“ Dr. Breit hatte das Haus nach 1945 nicht so billig verkaufen wollen, wie dies die Frau sich gewünscht hätte. Kein Wunder, dass ihn das zu einem „Saujuden“ klassifizierte. Dieses Interview mit Tee in feinem Porzellan war ein Höhepunkt meiner Recherchen, denn nicht nur die Offenheit in Sachen Dr. Breit faszinierte mich, sondern auch die Feststellung, dass die so bereitwillig Auskunft gebende Frau der Räumung des Tempels in der Dinstlstraße beigewohnt hatte, frappierte mich. „Da mussten wir einfach hingehen, wir haben uns gedacht, wenn der Rachmuth was arbeiten muss, das wollen wir sehen.“ David Rachmuth war auch ein Nachbar und betrieb eine Destillerie, die auf den Namen „Erwach“ hörte. Vielleicht war er der Erste, der Marillenlikör in der Stadt produzierte. Das fehlt noch, dass auch die Juden den Marillenlikör erfunden haben sollen. Im September 1938 holten die Nazis die Juden und zwangen sie, die Synagoge zu räumen, sie holten auch den Rachmuth. Die Nachbarn kamen und wollten sehen, wie er arbeiten musste. Der Herr Karl hatte eine Frau, und beide hatten viele Verwandte in Österreich, eine große Sippe.

Die Familie Breit war für mich ungreifbar, bis zum Jahr 2013, als ich ein E-Mail aus Basel bekam, in dem mich der Vormund von Frau Breit fragte, wie er eine Geburtsurkunde von Susanne Breit bekommen könne – alle bisherigen Bemühungen waren erfolglos geblieben. Die Pause der Geschichte war zu Ende. Ich flog nach Zürich, fuhr mit dem Zug nach Basel und mit der Straßenbahn Nummer 10 nach Arlesheim Dorf. Um zehn Uhr kam ich an. Am Bahnsteig wartete eine Frau im Rollstuhl mit einem blauen Strohhut und ihrer Betreuerin, mit der ich bereits Kontakt gehabt hatte.

Nach Jahrzehnten bin ich der erste Besucher aus Krems, der erste nach 1938, als sie der Vater hierher gebracht hat, möglicherweise hatte Susanne nach dieser Ablieferung keinen Kontakt mehr zur Familie.

Einen Tag verbringe ich mit Susanne Breit. Nur ein Mal hat Susanne die Schweiz verlassen, nach dem Krieg, als sie als Österreicherin nach Klagenfurt gebracht wurde. Die Betreuung dort war mit dem Sonnenhof nicht vergleichbar, halb verhungert kam sie zurück. Susanne hat viel erlebt, sie würde am liebsten nur spazieren gefahren werden in ihrem Rollstuhl. Sie weiß genau, was sie, wenn ihr Vormund mit ihr nach Basel fährt, dort essen will. Neben dem Spazierenfahren im Rollstuhl wären Autofahrten ihre Leidenschaft, auf dem Beifahrersitz natürlich. Eines mag sie jedoch gar nicht, die Mittagspause im Heim, alleine im Zimmer, das ist für sie kein Spaß, bereits vor dem Mittagessen kommt in jedem zweiten Satz die Feststellung: „Ich mag keine Mittagspause.“

Wenn Susanne spricht, dann ist es ein bisschen wie ein Knurren, eine eigene Sprache, für eine eigene Welt, und jede Sprache will erlernt werden. Nach einigen Minuten habe ich mich eingehört und beginne zu verstehen, es gibt ein lustiges Knurren und ein ungeduldiges, böses Knurren, wenn etwas nicht so abläuft, wie sie es möchte, wenn nicht gleich Zeit ist, um mit „Susanne ins Wasser zu hüpfen“, also sie zu baden. Carmen kennt Susanne seit fünf Jahren, für sie ist es immer wieder überraschend, wie bestimmend sie ist, sie weiß genau, was sie will, vor allem, welche Kleider sie tragen will. Seit einigen Jahren wohnt sie alleine, ihr Schreibtisch steht am Fenster, ein Blick ins Grüne, zwei vieleckige Lampions, die sie gebastelt hat, schaukeln im Wind, das Schweizer Wappen darf nicht fehlen. Den 1. August liebt Susanne, denn das ist die Zeit der Schweizer Fahnen.

Während der Mittagspause sitze ich am Balkon unter dem Zimmer von Susanne, nach dem Baden schreit Susanne, ich solle mich nicht schrecken, meint Carmen, das sei so, sie müsse eben zur Ruhe kommen, es dauere nicht lange. Nach wenigen Minuten ist nur noch ein kurzes lautes Knurren zu hören. In der Mittagspause legt sie Ansichtskarten in eine Schachtel, sie spielt mit Bauklötzen.

Verlassensängste spielen bei Susanne eine große Rolle. Am 10. Dezember 1938 kam Susanne ins Heim Sonnenhof, der Vater hat sie gebracht und für sie gesorgt, besser gesagt, das Geld für sie hinterlegt. Das war das letzte Mal, dass sie von ihren Eltern gehört hat, darauf angesprochen meint sie, dass es keine Karte, keinen Gruß gegeben habe, keinen Besuch. Als Kind wird es wohl nicht einfach gewesen sein mit Susanne, da habe sie viel geschrien, weil sie Schmerzen hatte. Mit der Mutter war sie in Wien bei einem Dr. Kellner, in dessen Anstalt, einer Art Heim, und von einem Onkel, den sie in Wien besucht habe, erzählte sie einmal, weiß Carmen zu berichten.

Die Bilder, die Susanne malt, sind jetzt wieder in hellen Farben gehalten, in der künstlerischen Werkstätte hat sie ein Puppenhaus gezeichnet und im Anschluss daran gebaut, ich sehe die Zeichnung, ich weiß, dass „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“ ihr Lieblingslied ist. Beim Spazierengehen singt sie zwei Strophen. Luftballons liebt sie und hat doch Angst, wenn sie aufgeblasen durchs Zimmer fliegen oder zerplatzen oder sie zum Quietschen gebracht werden. Nicht alle Puppen von Susanne haben einen Namen, der kleine Willi ist die ganze Zeit bei ihr, beim Spaziergang und beim Essen. Vor dem Essen sagt sie einen Segensspruch, einen Dank an Erde und Sonne, und alle am Tisch reichen sich die Hände.

Am Nachmittag darf ich alleine mit Susanne spazieren fahren, eine lange Runde, sie dirigiert mich. Als ich zum Heim abbiegen will, knurrt sie. Wir fahren weiter, um den Teich, sehen einen Reiher, einen kleinen Hund, der schwimmen lernt, Kinder, die im Bach spielen. Als ich einen zweiten Versuch unternehme und zum Heim abbiegen will, wird sie wieder böse, sie will noch ins Dorf. Ein Akkordeonspieler unterhält eine Hochzeitsgesellschaft auf dem Dorfplatz. Eine Idylle. Nach zehn Minuten kommt der Bräutigam und fragt, ob wir ein Glas Sekt trinken wollen. Ich bin nicht sicher, ob das für Susanne gut ist und lehne dankend ab. Als wir zurückkommen, erzählt Susanne knurrend, dass man uns Alkohol angeboten habe,wir aber Nein gesagt hätten.

Sie winkt, als ich gehe, und fragt: „Wo geht er jetzt hin.“ Zum 85er komme ich wieder, versprochen, Susanne. Nach 25 Jahren erschien die Geschichte über Krems zwischen 1938 und 1945 vergangenen Herbst in der Bibliothek der Provinz, die ebenfalls ein Vierteljahrhundert feierte, nämlich Verlagsarbeit. Die Geschichte von Susanne konnte nicht mehr aufgenommen werden. ■

Geboren 1958 in Krems. Dr. phil. Historiker. Direktor der Volkshochschule Wien-Hietzing. Forschungsprojekte zu NS-Zeit und Exil. Vergangenen Herbst ist erschienen: „Krems 1938– 1945. Eine Geschichte von Anpassung, Verrat und Widerstand“ (Bibliothek der Provinz).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2015)

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