Wissenschaftler sollen Modetrends nicht folgen

Vielfalt. Dominante Forschungsströmungen gefährden den Fortschritt, sagt der Salzburger Wissenschaftler Stefan Galler. Wie Muskeln funktionieren, hätte etwa viel früher erkannt werden können.

Schon 1858 war ein Wiener Naturforscher knapp dran, mit dem Mikroskop die Muskelfunktionsweise zu erklären. Weil die Methode aber im folgenden Biochemietrend passé war, griff bald niemand mehr seine Arbeiten auf und das Forschungsrätsel wurde erst 1954 gelöst. Ein Beispiel, an dem der Salzburger Zellbiologe Stefan Galler zeigt, dass wechselnde Modeströmungen den Fortschritt der Wissenschaft gefährden können. Wissenschaft soll daher nicht blind wechselnden Trends folgen, fordert er nun in einem Artikel in der Fachzeitschrift „Journal of Muscle Research and Cell Motility“.

Bei den Vorbereitungen für den Europäischen Muskelkongress im vergangenen Herbst stöberte Galler in alter Literatur und stieß auf eine Abbildung von 1858, die die Muskelfunktion schon erkennen ließ, obwohl sie erst fast hundert Jahre später aufgeklärt wurde. 1954 entdeckten vier Forscher, dass in den quer gestreiften Muskeln jeweils gleich lang bleibende Aktin- und Myosinfäden, sogenannte Filamente, ineinandergleiten und damit den Muskel verkürzen.

Bei der alten Abbildung handelt es sich um eine Zeichnung – durch das Mikroskop zu fotografieren war 1858 nämlich noch nicht möglich. Der Wiener Physiologe Ernst von Brücke hielt darauf fest, wie er Wasserkäfer-Muskelfasern im Polarisationsmikroskop gesehen hatte.

Sie zeigt die im polarisierten Licht hellen (I-Bande) und dunklen (A-Bande) Streifen dieser Muskeln, und wie sich beim Anspannen die I-Bande verkürzen. Heute weiß man, dass die A-Bande aus Myosinfäden und dazwischen hineinragenden Aktinfäden bestehen, die I-Bande nur aus Aktinfäden, die bei der Kontraktion in die A-Banden hineingezogen werden.

Mechanismus lang ungeklärt

Brücke erkannte zwar, dass die Querstreifen (A-Bande) aus einer Unzahl längs gerichteter Fäden bestehen. „Auf das Gleitfilamentmodell konnten er und seine Nachfolger aber noch nicht kommen, weil man lediglich von einem einzigen Muskeleiweißstoff wusste“, so Galler. Hinweise auf eine zweite Eiweißkomponente folgten zwar wenige Jahrzehnte später, diese Spur wurde aber nicht weiter verfolgt. „Deswegen blieb der Mechanismus der Muskelkontraktion noch einige Zeit ungeklärt“, so Galler.

Ende des 19. Jahrhunderts war man der Meinung, jede Bewegung müsse auf dem gleichen Mechanismus beruhen, und weil man in glatten Muskeln – jenen etwa von Darm, Gebärmutter und Blutgefäßen – sowie bei kriechenden Zellen keine Querstreifen sah, hielt man diese für unwichtig.

Am Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Biochemie im Trend, man wollte alle Lebensfunktionen aus dem Zusammenspiel einzelner Moleküle erklären. Da diese freilich zu klein sind, um sie im Mikroskop zu sehen, verschwanden die alten Mikroskopiestudien aus den Lehrbüchern und wurden auch nicht weitergeführt.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg war es so weit, dass Andrew Huxley und Rolf Niedergerke sowie, unabhängig davon, Hugh Huxley und Jean Hanson den Mechanismus der Muskelbewegung aufklären konnten. Kurz zuvor hat man entdeckt, dass mit Aktin und Myosin zwei unterschiedliche Eiweißstoffe beteiligt sind. Hugh Huxley hat die Aktin-Myosin-Fäden im Elektronenmikroskop sichtbar gemacht.

Andere Disziplinen belächelt

„So wie sich damals die Biochemie breitgemacht hatte und von vielen als der einzig wahre Forschungszweig in den Lebenswissenschaften angesehen wurde, passiert es heute mit der Molekulargenetik“, sagt Galler. Wer nicht mit molekularbiologischen Methoden arbeitet, werde heute nicht selten belächelt.

Auch Medizinnobelpreisträger Andrew Huxley habe das bis zu seinem Tod im Jahr 2012 immer wieder angekreidet. Dies schränke aber die Forschungsvielfalt eher ein und sei daher für den Fortschritt der Forschung nicht förderlich, so der Muskelforscher. (APA)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2015)

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