Wo der Prof sitzt

Um 17.32 Uhr am 11. Juni dieses Jahres betrete ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gebäude der Wiener Staatsoper. Einen „Don Giovanni“ später bleibt mir als Erinnerung ein Tennisarm. Als mich Werner Doralt in die Opernwelt einführte. Und was das alles mit Erwin Pröll zu tun hat.

Ich rief ihn an, nachdem er auf Ö1 wieder einmal gegen den Föderalismus und die Landeskaiser im Allgemeinen hergezogen war – und gegen Erwin Pröll im Besonderen. Es war die Zeit der Steuerreform, und er fand es ungeheuerlich, dass der neue Finanzminister beim niederösterreichischen Landeshauptmann einen Antrittsbesuch absolvieren musste. Neben der in dieser Hinsicht erfrischend goscherten Vea Kaiser schimpft keiner so schön über Erwin Pröll wie Werner Doralt.

Der kann also nicht ganz unsympathisch sein, dachte ich, und verabredete mich mit ihm in seinem Stammcafé, dem Landtmann am Ring, gleich neben dem Burgtheater. Frauen gibt es dort im Service keine, dafür jede Menge Piccolos, wie die Lehrbuben früher genannt wurden. Einen von denen frage ich nach dem emeritierten Professor für Finanzrecht an der Universität Wien und allgemein anerkannten, wenngleich nicht überall (Landhaus NÖ?) gelittenen Steuerrechtsexperten, und natürlich weiß auch der Frischling bereits, wo der Prof immer sitzt: „Links hinten, letzte Loge.“

Ich erwartete, einen versponnen Mann der Zahlen zu treffen, einen vielleicht zugeknöpften, jedenfalls schwer gestressten Kopfmenschen, der mir zackig erklären würde, warum genau Österreich ohne seine neun Landeskaiser besser aufgestellt wäre. Einen geizigen Groschenzähler obendrein, der sich von mir armer Maus einladen lässt, und wehe, ich lass mir keine Mehrwertsteuerrechnung geben!

Doch dann begrüßt mich dort ein kleiner, außergewöhnlich freundlicher und großzügiger Herr in grünem Jackett, der gleich zu Beginn klarstellt, wer wessen Gast sein wird. Wir bestellen Frühstück, und der Piccolo weiß selbstverständlich auch schon, dass der Professor „wie immer“ für jede Semmelhälfte eine Portion Butter braucht. Sie haben nämlich unlängst die Portionen kleiner gemacht, erklärt mir der Professor, und für das Wasser kassieren sie neuerdings auch schon 2,50 Euro pro Liter.

Flott und routiniert bringt Doralt seine Themen unter, während er das Ei vor der ersten Semmel isst: Bürokratiereform, Steuerreform und vor allem – Föderalismusreform. Wenn er einem erklären kann, wie sinnlos die neun unterschiedlichen Aufzugrichtlinien der Bundesländer sind, und wenn er dabei das Gefühl hat, sein Gesprächspartner versteht auch wirklich, wie vollkommen sinnlos das alles ist, dann strahlt er einen mit leuchtenden kleinen Augen über seine Lesebrille hinweg an.

Klar, Werner Doralt ist eitel und hört sich gerne reden. Aber wie er es tut, ist äußerst amüsant. Im Vorfeld unseres Gespräches hat er mir die Evaluierung seiner Lehrveranstaltung geschickt samt den zahllosen handschriftlichen Lobgesängen seiner Studenten auf ihn: Nach außen hin nimmt er das locker, nach innen hin aber freut er sich darüber auch nach Jahrzehnten im Hörsaal noch wie Zonen-Gabi über ihre erste Banane: „Superbe!“, steht da, oder: „Cooler Typ! Einer der besten Profs! Doralt for president!“ Und: „Danke für den Besuch der Oper!“ Der Zahlenmensch – ein Kulturvermittler also? „Aber natürlich!“, ruft er begeistert. „Wenn ich Zugang zur Kultur habe, dann muss ich sie auch für andere öffnen!“

Hinter dem Rathaus ist er aufgewachsen, während der Kriegsjahre, an der Josefstädter Straße im bürgerlichen achten Bezirk, wo die Mutter ein Zuckerlgeschäft betrieb. „Prägend war die Armut, die Zerstörung“, sagt er. Der Vater brachte den Krieg mit nach Hause in die Familie, und die Verletzungen, die Doralt aus dieser Zeit mitgenommen hat, kann er im Gespräch nicht ganz verbergen. Von der Mutter aber schwärmt er. „Sie war immer da.“

Er ging natürlich zu den Piaristen, und er war ein sehr schlechter Schüler, bekennt er offen. Er litt furchtbar darunter, und bisheute kann er nicht glauben, dass einer auf seinem Skateboard herumfährt und nur wegen der coolen Pose den Makel des schlechten Schülers genießen kann.

Ein erster Höhepunkt in diesem Leben war 1952 die Wiedereröffnung des Stephansdoms mit Läuten der Pummerin, da war er zehn: „Man kann sich das heute nicht vorstellen“, sagt er, während seine Augen feucht werden. „,Pummerin übernachtet in St. Pölten!‘, stand damals im ,Neuen Österreich‘. Übernachtet!“ So viel bedeutete diese Glocke dem Volk, dass es diese gar nicht wie eine Glocke behandeln wollte. Ein eruptives Gemeinschaftserlebnis war dann zwei Jahre später die Unterzeichnung des Staatsvertrages. „Das war Aufbruch“, sagt er, und er selbst war die nächsten Jahrzehnte auf Seite jener, die auch einmal genug haben wollten von der Aufarbeitung des Krieges. Bis Peymann den Heldenplatz ins Burgtheater holte. „Kultur hat keine aufklärende Wirkung“, sagt Doralt. „Der ,Heldenplatz‘ war die Ausnahme.“

Schon als Elfjähriger fing er an, abends ins Theater zu gehen, wenn andere strawanzten, und er blieb dem Theater für immer treu. Es waren die Klassiker, die ihn faszinierten: „Ein Bruderzwist in Habsburg“ zum Beispiel, eine Riesensache war das für ihn 1959, erinnert er sich, als der Werner Krauß gestorben war und Ewald Balser die Rolle übernehmen musste. „Ein Abklatsch!“, fällt er noch heute ein vernichtendes Urteil über dessen Leistung.

Inge Konradi erschien ihm nicht in seinen Träumen, und nach Judith Holzmeister verspürte er kein Sehnen. Ihn interessierte mehr der technische Aspekt an den Aufführungen und nicht die Erotik der Burgtheaterstars. In Schillers „Räubern“ spielte Fred Liewehr den Franz und erhängte sich als dieser an seiner Hutschnur. Das machte gewaltig Eindruck auf den zukünftigen Finanzrechtler, und er wollte unbedingt genau wissen, wie das Aufhängen geht. Er buchte einen Platz in der linken Loge ganz vorne bei der Bühne für eine weitere Vorstellung, aber Liewehr erhängte sich außerhalb seines Sichtfeldes. Das war aber nicht der Grund, warum er mit 15 Jahren seinen kulturellen Horizont um die Musik erweiterte. Es begann seine,wie er sie nennt, „musikalische Jugend“. Er kaufte keine Schallplatten, hörte keinen Elvis, auch keinen Jazz oder Blues, sondern ging in Konzerte. Als er die Liebe zur Oper für sich entdeckte, war erdann schon 40. „Boris Godunow“, sagt er, war seine erste Aufführung im Schlepptau seiner Gattin. „Ich glaube, die vorvorletzte Inszenierung.“

Er wurde ein Fan, aber nie ein sich selbst überschätzender „Experte“, so wie man sie unter Weintrinkern oft trifft. Er liebt Verdi, Donizetti, alles Italienische, was ihm Blut- und Schmalzgeschichten liefert. „Ich verstehe nichts von der Oper, ich gehe nur hin“, sagt er. Manche seiner Freunde tun auch das nur, um sich die „Steuern, die sie bezahlen, wieder zurückzuholen“, erklärt er lachend. Damit spielt er auf die hoch subventionierte Kunstform Oper an samt Rabatt für die Abonnenten, der ihn indirekt zum ersten Mal ins Fernsehen brachte. Placido Domingo sollte den Otello singen, und als die Zählkarten für die Vorstellungen ausgegeben wurden, kam es im Burggarten zu Tumulten unter den Fans. Doralt stellte sich beim Anstellen die Frage, wer denn überhaupt an freie Karten kommt und wer an die Abos. Er rief die zuständige Ministerin, Hilde Hawlicek, an, und die berichtete ihm, dass die Abonnenten ihre Karten gleich um 40 Prozent billiger kriegen. Sehr zum Nachteil der Steuer zahlenden Allgemeinheit, wie Doralt fand. Das war also ein gefundenes Fressen für ihn. Ein paar Tage später stand er beim Volksanwalt im Fernsehen – und er war noch ein wenig nervös. Der Steuerzahler aber durfte ihm seinen Auftritt danken, denn der Rabatt in dieser Form wurde abgeschafft.

Seit damals ist es ihm ein besonderes Anliegen, dass auch „das Volk“ Zugang zu dieser Kunstform hat. So erzählt er von einem ägyptischen Maronibrater beim Schottentor, dem er einst eine Karte für „Aida“ geschenkt hat – ein Triumph! Überschwänglich hat er es ihm gedankt. Für seine Studenten gibt er pro Semester locker 500 Euro für Opernkarten aus, die er unter ihnen verteilt. Manchem hat er damit schon eine neue Welt eröffnet, andere blieben unberührt. Er würde jeden einladen, sagt er, er hat diesbezüglich eine Mission.

Ich gebe mich als Novize zu erkennen, und drei Wochen später lädt er mich zu „DonGiovanni“ ein. Um 17.32 Uhr am 11. Juni des Jahres betrete ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gebäude der Wiener Staatsoper. Ich sehe jede Menge Hotpants, wo sie nicht sein sollten, und ein riesiges Canterbury-of-New-Zealand-Shirt in Rot und Schweiß an einem Koloss, der kaum mehr atmen kann. In Zukunft kann er zum Leberkas-Pepi aus Linz hinübergehen, der hier bald um die Ecke eine Dependance eröffnen wird. Ich sehe ein paar ältere Französinnen, die sich draußen noch eine reingezogen haben, jetzt keuchen sie die berühmte Stiege hinauf und riechen nach Provence, während andere, die schwitzend an mir vorbeiziehen, nach Banlieue riechen.

Um 17.40 Uhr schon höre ich „Einlass!“, um 18 Uhr kommt der Professor, er führt mich hinauf Richtung Balkon, wo unsere Plätze sind. Auf dem Weg dorthin begegnet uns Direktor Meyer höchstselbst, er ist noch um vieles kleiner als der Professor und praktisch jeden Abend hier. „Öffnen Sie sich!“, rät er mir, und ich nehme es mir fest vor. Wir betreten den Gobelinsaal, und der Professor zeigt mir eine Rodin-Büste, bevor wir Platz nehmen.

Ich verspüre Druck, alsmir mein Gastgeber andeutet, wie viel er für meine Karte ausgegeben hat. Das Handyverbot in vier Sprachen, das vor der Aufführung verkündet wird, befolge nur ich. Der IS zerstört Kulturgüter, dasSmartphone zerstört gleich alle Kultur. Neben mir sitzt eine Deutsche, sie ist nett.

Die Aufführung? Schon nach der Ouvertüre weiß ich nicht mehr, wohin mit meinen Füßen. Als der Vater von der einen, die Don Giovanni im schwarzen Ledermantel liebt, tot auf der Bühne liegt, beneide ich ihn über alle Maßen, denn er hat seine Beine ausgestreckt. Ich finde keinen Platz, um mich zu „öffnen“. Der Perkussionist haut immer ein paar Mal auf seine Trommeln und geht dann wieder nach hinten schlafen, das finde ich unfair. Als meine Muskeln sich endlich geschlagen geben wollen, fällt der Vorhang zur Pause. Wir vertreten uns die Füße auf der Terrasse.

Zum zweiten Teil hat die Deutsche neben mir mit ihrem Mann Platz getauscht, leider. Er ist der Typ: „Ich habe 40 Jahre bei Opel gearbeitet und gönn mir jetzt Oper!“ Er verzettelt sich in einen sinnlosen Stellungskrieg mit mir wegen der Sitzlehne und sagt ständig: „Unverschämtheit!“ Ichfrage ihn, ob seine Frau denn schon weiß, dass er schwul ist, weil er sich so weit zu mir herüberlehnt. Da trifft mich sein Ellbogen mit voller Wucht am Beuger, aber ich bleibe ruhig und halte dagegen. Als Donna Anna auf der Bühne um „Gnade“ fleht, gibt er endlich auf.

Der Vorhang fällt wenig später, und ich beende meine erste Oper mit einem Tennisarm. Worum es ging, hab ich gar nicht so richtig mitbekommen.

Beim Absacker im Café Mozart nehme ich mir fest vor, ab Herbst Finanzrecht zu studieren. Da kann ich den Professor wieder über Erwin Pröll schimpfen hören, und deswegen habe ich ihn ja getroffen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2015)

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