Ethnische Fehden

An der Wand stand "Ausländer raus": von den ethnischen Fehden in den 1990er-Jahren und deren aktueller Neuauflage.

Es gab diese Wand, an der wir Kinder entlangtrotteten, auf dem Weg zur Schule und zurück, die schweren Schulranzen am Rücken, voll mit Büchern, Papierkram und Jause, die Geschwister und Freunde an der Hand. Die Wand gehörte zu einem der Häuser einer Siedlung, die früher von einer Fabrik betrieben wurde und in der viele ehemalige Gastarbeiter mit ihren Familien lebten. Auf die Wand, an der die Migrantenkinder jeden Tag vorbeischlurften, hatte jemand eilig und dementsprechend krakelig „Ausländer raus“ geschrieben. Aus irgendeinem Grund wurde dieser Schriftzug jahrelang nicht entfernt, und wir selbst kamen auch nicht auf die Idee, diesen Spruch zu melden. Im Nachhinein kann ich nicht wirklich erklären, warum das nicht passierte. Dass es Rassismus selbst in unserer beschaulichen Gemeinde am Bodensee gab, war keinem von uns neu. Dass der Rassismus damals alle Ausländer betraf, auch nicht – denn diejenigen, die den Schriftzug angebracht hatten, wollten sie alle raus haben, Türken, Serben, Kroaten, Ungarn, Slowenen, Kurden usw. In den 1990er-Jahren waren sie für Rassisten alle gleich in ihrem Ausländerdasein, sie waren alle gleich unerwünscht.

Heute hört man ja mittlerweile von „guten“ und „schlechten“ Migranten.

In der Community selbst hat die Kollektivierung aller Migranten von außen nicht wirklich zu einem Zusammenhalt und Schulterschluss gegen Rassismus geführt. Die 1990er waren keine gute Zeit dafür. Die Auswirkungen der Jugoslawien-Kriege waren bis in die Siedlung spürbar. Serbische, kroatische und bosnische Volksschulkinder haben die Parolen wiedergegeben, die sie von ihren Eltern gehört haben, ohne die Dimensionen des Gesagten begreifen zu können. Türkische und kurdische Kinder haben genau dasselbe gemacht. Da fielen Begriffe wie Terrorist, Faschist und Nationalist, als gehörten sie wie selbstverständlich zum Wortschatz eines Lesen und Schreiben lernenden Kindes. Dabei haben viele Eltern sicherlich nicht mit Absicht auf die Kleinen eingewirkt. Ihr Frust, ihre Wut und Trauer über die Lage in den Heimatländern – viele waren schwerst traumatisiert, entkamen knapp dem Krieg – wurden oft schleichend auf die Kleinen übertragen, wie ein unaufhaltbarer Krankheitsprozess.

Die 1990er sind gar nicht so lang her, aber die ethnischen Fehden, die unsere Kindheit so prägten, konnten großteils überwunden werden, mit unserem Erwachsenwerden und mit den Friedensprozessen, auch wenn sich ein letzter Rest festgesetzt haben mag, irgendwo in einer unteren Schublade im Archiv des Gehirns.

Diesen Rest haben in den vergangenen Tagen wohl viele türkisch-kurdische Migranten herausgekramt. Die Bilder und Nachrichten, die aus der Türkei kommen, erinnern stark an die 1990er-Jahre: Schon wieder wird dividiert: „Der ist Kurde, der ist Türke, und damit sind die Fronten klar.“

Es kann nur unverantwortlich sein, diesen mühsam zusammengeschusterten Frieden aufs Spiel zu setzen. Die türkische Regierung hat gezeigt, dass ihr ein Teil der Bevölkerung mehr bedeutet als ein anderer. Und die kurdische PKK hat schon wieder keine bessere Idee als Rachemorde.

duygu.oezkan@diepresse.com

diepresse.com/diesetuerken

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2015)

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