Raumordnungspolitik: Schrumpfung passiert...

Es hat keinen Sinn, die Augen davor zu verschließen, dass es Regionen in Österreich gibt, die nicht mehr wachsen werden.

Österreichs Bevölkerung wächst laut der aktuellen Statistik aus diesem Jahr in allen neun Bundesländern – in Wien am meisten, in Kärnten am wenigsten. Österreich wächst aber fast ausschließlich in den Agglomerationen und an der West-Ost-Achse, nicht jedoch in vielen ländlichen Regionen. Da schrumpft die Bevölkerung – so die umgangssprachliche Bezeichnung des Gegenteils von Wachsen.

Nun ist das Wachsen der Bevölkerung im öffentlichen Diskurs auch nicht immer positiv besetzt. Hier geht es aber schon um dahinterliegende, oft sehr subjektive Zuschreibungen: Arbeitsmigration, Asylanten, Flüchtlinge etc. werden sehr selektiv und nicht immer kontextbezogen in diesen Diskurs zu Bevölkerungswachstum eingespielt. Beim Begriff der Schrumpfung wird gedanklich meist erst gar nicht so weit assoziiert, das Wort ist per se negativ besetzt und wird vermieden. Auch lebt uns die Wirtschaft vor, dass wir, wie aus einer naturgesetzlichen Logik heraus, permanent wachsen müssen. Das Wort Schrumpfung ist also bisher im alltagspolitischen Diskurs ein No-go. Es drückt etwas aus, was nicht sein darf, daher auch nicht kommuniziert werden kann.

Wachsen, nicht schrumpfen

Politiker werden für das Wachsen und nicht für das Schrumpfen gewählt. Wachsen Einkaufszentren am Stadtrand, können diese eröffnet werden. Wird Wachstum aber eingebremst, was aus der diesbezüglichen Sicht der Raumplanung häufig sinnstiftend wäre, werden Politiker von Wirtschaftstreibenden sogleich als Verhinderer des Wachstums verunglimpft, wie gerade in Salzburg vorgelebt.

Probleme in der Raumentwicklung entstehen zum Teil dadurch, dass Fragen und wesentliche Entwicklungsschritte aus diesem Grund entweder nicht gestellt oder verzögert werden. Sie werden erst dann relevant, wenn der Leidensdruck – beispielsweise verursacht durch Kosten – zu groß wird. Die Stimmenmaximierung konkurriert mit enden wollenden Ressourcen. Wachstum bringt Erfolg, Schrumpfung wird als politisches Versagen wahrgenommen. So reduziert lässt sich das Stimmungsbild vielerorts umschreiben.

Viele Gemeinden sind mit Schrumpfungsprozessen konfrontiert, die – prognostisch gesehen – mancherorts weiter zunehmen werden. Der Niedergang einst traditioneller Industrien wie der Erzgewinnung in der Steiermark und der Rückbau der Schwerindustrie an vielen weiteren Standorten sollen hier gar nicht als viel strapazierte Paradebeispiele angeführt werden. Die rückläufige Bevölkerungsentwicklung in vielen ländlich peripheren Regionen ist nämlich sehr stark durch Abwanderung von jüngeren Menschen im Ausbildungsalter gekennzeichnet.

Wem kann es jedoch übel genommen werden, zwecks besserer Ausbildungschancen den Wohnort zu wechseln, um dadurch mehr individuelle Möglichkeiten abzurufen? Wir sind als Gesellschaft insgesamt mobiler, multilokaler aber auch prekärer geworden.

Die Konsequenzen für die Herkunftsregionen – wie rückläufige Geburtenrate, Ausdünnung der Nahversorgungsinfrastruktur, sinkende Angebote öffentlicher wie privater Dienstleistungen oder abnehmende Anteilnahme am Vereinsleben – sind freilich bekannt und markant, jedoch nur ansatzweise durch traditionelle Begleitmaßnahmen zu kompensieren. Eine disperse Siedlungsstruktur in vielen ländlichen Gemeinden wird künftig noch verstärkt zu Schrumpfungsprozessen beitragen.

Einzel- und Streulagen in Korrelation zum Alter der Wohnhaften lassen vermuten, dass neben den ohnedies betroffenen Nahversorgern auch im privaten Wohnsegment der Leerstand noch deutlich steigen wird. Der Kostendruck auf Allgemeinkosten, der diesbezüglich auf den Gemeinden lastet, wird dadurch nicht geringer.

Alternativen ansprechen

Sogar die diskutierten Abrissprämien könnten motivieren – hier ist zumindest der zweite Teil des zusammengesetzten Wortes positiv besetzt. Sie sind auf Dauer gerechnet im zu überprüfenden Einzelfall auch kostengünstiger als ein von wem auch immer zu tragender Substanzerhalt einer zusammenhängenden Infrastruktur.

Anreizsysteme zur Begleitung evidenter Schrumpfungsprozesse stellen eine Marktlücke dar. Rein volkswirtschaftlich gesehen sollten diesbezügliche Maßnahmen jedoch verstärkt geprüft werden, wobei es hier explizit nicht zulasten einer sozialen Ausgewogenheit gehen darf. Es muss möglich sein, Alternativen ansprechen zu dürfen und asphaltierte Forststraßen nicht mehr vom Schnee von gestern zu räumen.

Auch muss es möglich sein, dass Politiker etwas aussprechen können, was nicht ausschließlich dem Medientraining mit Beratern entstammt. Reagiert wird jedoch bisher mit üblichen Mustern einer auf Wachstum konditionierten Gesellschaft. Baulandmobilisierung, die zum Bleiben einladen soll, Infrastrukturausbau, wo nicht immer notwendig, um Fördermittel abzurufen, auch der Ausbau von Betreuungsplätzen für eine alternde Gesellschaft mutet dort skurril an, wo es in 20 Jahren rein prognostisch keine Alten mehr gibt.

Chancen eines Rückbaus

Die indirekte Mobilitätsförderung für den motorisierten Individualverkehr – durch mangelnde Unterstützung für diesbezügliche Alternativen – hört sich in ländlich peripheren Regionen zuweilen so an: „Wir haben kein Mobilitätsproblem – wir haben ein Auto!“

Dort, wo Schrumpfung als unausweichlicher Prozess wahrgenommen wird, gilt es, diesen proaktiv zu begleiten. Ohne es schönreden zu wollen, liegen auch Chancen im Prozess der Begleitung des Rückbaus. Diese finden sich auch nicht ausschließlich im Faktor Kosten. So sind neue Kooperationen zwischen Gemeinden für kommunale Agenden ebenso denkbar wie neue Investitionsmodelle, bei denen auf eine breite Beteiligung und Verantwortung gesetzt wird. Auch Kooperationen zwischen Zentren und Peripherien sind ausbaubar.

Es geht somit um einen angemessenen Umgang mit Realitäten, der auch neue Formen der Daseinsvorsorge und Mobilität ins Machbare rückt. Davon könnten auch periphere Regionen wieder profitieren. Spätestens dann, wenn Schrumpfung physisch durch Verfall oder Leerstand sichtbar wird, muss es möglich sein, die Sache auch von der Politik anzusprechen, besser aber schon früher.

Mut zum Handeln fehlt

Obwohl sich viele Verantwortliche der Lage bewusst sind, fehlt der Mut, um neue, unpopuläre, aber notwendige Schritte einzuleiten. Die Suche der Politik nach einem anderen Begriff ähnelt dem Versuch einer schmerzdosierten Vermittlung der Bedeutung von Schrumpfung. Es gleicht dem Euphemismus im Wirtschaftsdeutsch, bei dem der Konkurrent durch den Mitbewerber abgelöst wurde und jetzt als Marktbegleiter daherkommt.

Bevor das Wort Schrumpfung jedoch dem Begriff der „inneren Dynamik“ weicht, sollte die Sachlage beim Namen genannt werden. Schrumpfung muss salonfähig werden, um die Handlungsfähigkeit in der Raumordnungspolitik zu erhöhen.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Martin Heintel
(*1967 in Wien) ist Professor am Institut für Geografie und Regionalforschung der Universität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Raumentwicklung. Er ist Sprecher des Österreichischen Verbandes für Angewandte Geografie und absolvierte zahlreiche Gastprofessuren, u.a. in den USA und im Oman. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2015)

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