Striegeln und auspeitschen

Spielerisch: Hans Eichhorns Bearbeitung eines Märchens.

Märchen sind Geschichten wundersamen Inhalts, die von Generation zu Generation weitererzählt werden. Sie kombinieren die immergleichen Motive und Stoffe in unterschiedlichsten Abwandlungen und ähneln einander in ihrem Aussagekern auf der ganzen Welt. Märchen gehören zum Urgestein der Kultur. Seit der Sammlung durch die Gebrüder Grimm haben sie im deutschsprachigen Raum auch in die Literatur im engeren Sinn Eingang gefunden und werden von Dichtern bearbeitet.

Der oberösterreichische Autor Hans Eichhorn nimmt in seinem jüngsten Prosawerk das ungarisch-schwäbische Märchen vom Ichweißnicht zum Ausgangspunkt eines literarischen Spiels, um „das Märchen jetzt wiederzubeleben und den Text einfach aufzulösen, indem er ständig und immer wieder anders erzählt wird, bis nichts mehr stimmt, bis die Wörter und Sätze zu einem Gezwitscher gesteigert werden, das in den Ohren wehtut, und wo es darum geht, alles auszublenden, still zu liegen, bis sich von selbst etwas abzuzeichnen beginnt“.

Motiv für Motiv wird gedreht und gewendet, in die Gegenwart transponiert und verschiedenen Figuren zugeteilt. So entsteht ein musikalisch anmutender Reigen erzählerischer Variationen, die immer neue Verlaufsmöglichkeiten ein und derselben Situation entwerfen: Die Vorstellung wird zum „Hauptakteur“. Abgesehen vom Lesevergnügen ist es beinahe unerheblich, ob Hansl als Stallknecht im Waldhaus einer Frau oder in der großstädtischen Steuerberatungskanzlei des Onkels, ob Konrad im Provinzpostamt oder „der Dubliner Sohn“ (Beckett) in der französischen Résistance landet – immer geht es um das Abschiednehmen, das Verlassen der Sicherheit, die Initiation in eine als verstörend empfundene Welt.

Das Brechen eines Verbots

Doch was hat es zu bedeuten, wenn die tägliche Arbeit darin besteht, drei Rösser zu striegeln, mit dem eigenen Mist zu füttern und dann auszupeitschen? Warum wird das Brechen eines Verbotes mit der Erweiterung der eigenen Fähigkeiten belohnt? Wie überlebt man, wenn man drei Jahre lang immer nur „Ich weiß nicht“ antworten darf? Wie kann einen dasselbe Liebesglück zweimal ereilen?

Ein Märchen fragt nicht nach der Logik. Eichhorn hat mit dem Märchen eine gute Wahl getroffen; es lässt viele Fragen offen, gibt vieles zu denken auf und hält – im Sinne des dreijährigen Banns – immer nur die eine „Antwort“ parat: „Ich weiß nicht.“ Dieses Nichtwissen stellt der Autor als ein Innehalten dar, die Voraussetzung, um innere Erkenntnisvorgänge wahrzunehmen und sich der Notwendigkeit steter Wandlung bewusst zu werden.

Vergleichbar der Morphologie des Märchens (1928) des russischen Strukturalisten Vladimir Propp wird im Ichweißnicht-Spiel der Ursprungstext auf seine strukturellen Grundelemente reduziert, um ihn wiederum literarisch – auch ironisch und erotisch – aufzuladen. Durch die Virtuosität der daraus entwickelten Erzählvarianten treten psychische Grundkonstellationen in den Vordergrund, die an eine tiefe Weisheit rühren. Damit rückt das Spiel in die Nähe der tiefenpsychologischen Märchendeutungen des deutschen Psychotherapeuten und Theologen Eugen Drewermann – allerdings mit dem Bonus einer fantasievollen Ausgestaltung und poetischen Sprachgebung. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2009)

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