Grenzgängerin am absoluten Nullpunkt

Materialforschung. Festkörperphysikerin Silke Bühler-Paschen erforscht exotische Elektronen am wohl kältesten Ort Österreichs: im Ultratieftemperaturlabor der TU Wien.

Schon der Bau war spektakulär. Die Kältekammer im Freihaus der TU Wien reicht über drei Etagen. „Dafür mussten Decken durchgebrochen, das Gerät schließlich schwingungsentkoppelt aufgehängt werden, damit auch winzige Erdstöße und Gebäudeschwingungen nicht mehr spürbar sind“, sagt Silke Bühler-Paschen, Leiterin des Instituts für Festkörperphysik. Auch gegen elektromagnetische Strahlung wurde die Kammer abgeschirmt. Und so können die Wissenschaftler nun völlig von der Außenwelt abgeschirmt nahe am absoluten Temperaturnullpunkt von minus 273,15 Grad Celsius forschen.

Bühler-Paschens Ultratieftemperaturlabor ist damit der kälteste Ort Österreichs für die Erforschung von Festkörpern. Bestimmte Materialien kommen selbst bei extrem tiefen Temperaturen nicht zur Ruhe. Und diese Phänomene könne man erst unter realen Bedingungen wirklich erforschen, sagt sie, die das Wechselspiel zwischen Experiment und theoretischer Vorhersage liebt. Jetzt, da man gezeigt habe, dass man bei so tiefen Temperaturen verlässlich messen könne, wolle man die Theorien an den interessantesten Materialien überprüfen, erklärt sie. Erste Ergebnisse seien jedenfalls vielversprechend.

Das Labor hat sie mithilfe eines ERC-Grants, einer hoch dotierten Förderung des Europäischen Forschungsrats, aufgebaut. Die Physikerin untersucht darin Materialien, in denen sich Elektronen gegenseitig „spüren“, also stark miteinander wechselwirken und sich selbst nahe beim absoluten Nullpunkt exotisch verhalten. „Diese Materialien entwickeln Eigenschaften, zum Beispiel exotische Supraleitung, die auch für die Anwendung relevant sein können.“ Denn auch als Grundlagenforscherin sagt sie: „Was wir heute in der Festkörperphysik untersuchen, wird in 50 Jahren ziemlich sicher eine Anwendung nach sich ziehen.“ Gelungen ist ihr das bereits mit sogenannten thermoelektrischen Materialien, die Wärme in Spannung umwandeln können. Sie gelten als große Hoffnungsträger für die Energiegewinnung der Zukunft. Mit Tricks aus der Grundlagenforschung ließen sich elektronische und Gittereigenschaften eines neuen Materials entscheidend verbessern. Die Wissenschaftler meldeten es bereits zum Patent an.

Bühler-Paschen begeisterte sich schon in der Schule für Physik. Ob man sich als Frau in der Forschung warm anziehen muss? Das habe sie lang nicht so gesehen, sagt sie. Heute findet sie schon, dass man mitunter doppelt um gleiches Ansehen kämpfen müsse. Aber auch zeitlich sei es schwierig, mit dem Arbeitseinsatz vieler Männer mitzuhalten. In den USA etwa sei es üblich, auch am Wochenende zu arbeiten und praktisch keinen Urlaub zu nehmen. „Das geht nicht mit einer Familie“, sagt Bühler-Paschen.

Sie ist mit einem Physiker verheiratet, er und die drei Kinder füllen ihre Freizeit aus. Ansonsten liebt sie Sport und klassische Musik. Aktuell begeistert sie etwa ein Streichsextett von Brahms, das sie kürzlich beim Musikfestival in Aspen, USA, gehört hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2015)

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