In den Himmel geschrieben

(c) AP (Axel Heimken)
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„Problemklasse“, flüstert mir die Lehrerin ins Ohr. Mein Workshop für Erstwähler: dreimal 50 Minuten politische Bildung in einem Wiener Gymnasium. Ein Erfahrungsbericht.

Die Schulglocke schmerzt in den Ohren. Stante pede werden die Türen der Klassenzimmer aufgestoßen, ich verstehe kein Wort, schaue in das Gesicht der mich begrüßenden und mir einen unbekannten Sachverhalt schildernden Lehrerin. Sie gestikuliert, lächelt, ich zucke mit den Schultern, lächle auch. Zehn-Uhr-Pause. Die 6B schlendertdurch die überfüllten Gänge, ich hinterher, Stau im Stiegenhaus, die Schüler beißen in Wurstsemmeln, tippen in Handys, stellen Entgegenkommenden das Bein. Wir haben nicht genügend Klassenzimmer und sindständig auf der Achse, erklärt die Lehrerinund drückt sich im Vorübergehen einenCappuccino aus dem Automaten. Der Pinnwand vor dem Lehrerzimmer entnimmt sie die Raumaufteilung dieses Vormittags, wir müssen in den dritten Stock, Beeilung, weitersagen, in die Musikklasse, 3B.

Dort stöbern wir einige Schüler auf, sie beatboxen und schießen mit einem Becher von Starbucks Tore, raus da, wir sind jetzt hier. Sie schnalzen mit der Zunge und begeben sich unverzüglich in den Schülerstrom am Gang. Das für den Workshop bestellte Flipchart ist nicht zu sehen, es müsste im Physiksaal sein, meint eine Schülerin, vorhanden sind eine Tafel und ein halbes Stück Kreide. Ab nun stehendreimal 50 Minuten zum Thema „Wählen ab 16 – Europawahl“ zur Verfügung, vor mir sitzen 17 Erstwähler, die Lehrerin verlässt den Raum, um Kreide zu holen.

Eine erste Umfrage ergibt, dass alle Anwesenden am 7. Juni wählengehen möchten, klar doch, das lasse man sich nicht entgehen, Mitbestimmung, Wahlrecht. Doch kaum jemand hat sich bereits für eine Partei entschieden. Die streiten bloß untereinander, ruft ein Bursche und wippt im Takt der Musik, die er mittels iPod-Kopfhörer mit seinem Banknachbarn teilt. Die Parteien reden Wischiwaschi, sagt ein Mädchen mit Kopftuch, sie dreschen Parolen. Im Wahlkampf sei es unmöglich zu erkennen,welche Partei wofür steht. Wahlkabine.at, die klären für dich, welche Partei du wählen sollst! Nur die FPÖ hat klare Haltungen, sagt einer mit weißem Poloshirt. Sofort kommt Lärm auf, zwei Gruppen diskutieren, ein Mädchen schlägt auf den Tisch, jemand schießt einen Papierflieger auf den Hinterkopf eines Burschen in der ersten Reihe, der dreht sich um und bittet höflich um Ruhe. Man müsse Personen ohne Parteien wählen, den Martin, der stehe für sich und machekeine leeren Versprechungen! Der Wahlkampf ist kalter Krieg, skandiert eine Bankreihe, und ein weiterer Papierflieger segelt nach vorn.

„Begriffe clustern“ erhöht die Aufmerksamkeit, beruhigt und sortiert die Fragen.Also öffne ich das Tafeltriptychon, staube das englische Present Perfect Simple ab und klamüsere aus dem Tumult heraus, was den Schülern bei ihrer Wahlentscheidung wichtig wäre. Klare Positionen, Information,Übersicht der Wahlprogramme und glaubwürdige Kandidaten. Die gewählte Parteimüsse sozial eingestellt sein, Österreich international gut vertreten und Menschenrechte stärken. So weit, so gut. Die Kreide geht dem Ende zu, ich schreibe mit dem letzten Brocken: Für die Menschen in Euro- pa da sein. Dann ergänzt lauthals der mit dem Polohemd: „Österreich schützen“ – unddass er genau durchschaue, dass auch dieFPÖ mit Wasser koche.Aber man wisse, woranman sei, fügt er hinzu.Die Lehrerin bringt bunte Kreide, wundert sichüber das Gebrüll, dazuläutet es ohrenbetäubend, und wir übersiedeln im Laufschritt indas Hochparterre. Aufdem Weg dorthin begleitet mich der Junge aus der ersten Reihe. Er frage sich die ganze Zeit, ob nicht eine politische Kraft Ordnung machen solle, er denke da an einen starken Mann, der, demokratisch gewählt, den Zwist der Parteien beenden sollte. Vielleicht auch europaweit. Er meint es ernst, er möchte eine Antwort. Eine Sternstunde der politischen Bildung, nun gilt es. Mein improvisierter Vortrag,treppab, fokussiert das Argument, dass Pluralität der Meinungen die Demokratie stärke und eine allzu dominante politische Kraft die Meinungsfreiheit einschränke und letztlich autoritär regiere.Ja, Berlusconi gefalle ihm auch nicht, sagt er, er verstehe Autorität im Sinne von mutig Verantwortung tragen. Eine solche fehle seiner Meinung nach im Moment in Europa. Oder mehrere dergleichen, sage ich darauf. Möchten Sie die sechs Euro jetzt haben oder später, fragt er noch und fischt in der Hosentasche danach. Die Glocke fährt mir ins Gehör, ich winke ab, das wird von eurer Lehrerin eingesammelt. Bei Stundenbeginn fehlen etliche Schüler. Ich wische mehrere Prismendiagonalen von der Tafel, drehe einen tropfenden Wasserhahn zu, zeichne eine Blume und warte.

Nach und nach trudeln die Übrigen guter Laune ein, die Lehrerin hat Sprechstunde und entschuldigt ihre Abwesenheit, sie vertraut mir das Klassenbuch und die bunte Kreide an. Nun malen alle an der Europa-blume, in ihr Wurzelgeflecht schreiben sie: Friede, gemeinsame Wirtschaftspolitik, soziale Gerechtigkeit, Euro, Europafahne, Kultur, Vielfalt, überall studieren. Das Christentum wird nach ausführlicher Debatte in Klammer gesetzt. Am Stängel ranken sich dieBürokratie, die Verwaltung und das Budget, in den Blütenblättern finden sich Begriffe wie Gesetze, Leitlinien, Europaparlament, Kontrolle, Ausschüsse, Delegationen. Eine Gruppe malt den Himmel über der Blume, Raum für die Wünsche an die EU: Förderung der Bildung, gratis Verhütungsmittel, Selbstverteidigungskurse für alle, Kampagne gegen Rassismus, faire Asylpolitik und Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel. Wir sollten nach den Zielen der Parteien wählen und nicht danach, wer den anderen am meisten fertigmacht, sagt ein Mädchen und schaut von ih- rer Häkelarbeit auf.

Die Hochglanzbroschüren des EU-Informationsbüros für Österreich kursieren imRaum. Ein paar Schüler surfen mit dem Handy, du musst Europaparlament eingeben, vertrödeln sich mit Gesetzgebungsvorschlägen und Initiativberichten, entdecken einen Link zu den europäischen Fraktionen. In der Klasse wird es ruhig. Die Europäische Volkspartei ist für eine gemeinsame Einwanderungspolitik, stellt ein Schüler fest, und sie ist auch für die Verteidigung gemeinsamer starker Werte, Punkt eins der Prioritätenliste für die Europawahl. Unruhe kommt auf, was bedeutet Verteidigung? Und was sinddie starken Werte? Familie wahrscheinlich, sagt die Häklerin, darauf stehen die doch. Die Klasse beschließt, alle europäischen Fraktionen anhand des Asylthemas zu vergleichen, das machen wir in Deutsch, da passt es. Aber das Wahlprogramm ist noch lange nicht politisches Handeln, und die Abgeordneten vertreten auch Länderinteressen ihrer nationalen Parteien, wirft der Bursch aus der ersten Reihe ein. In diesem verwirrenden Augenblick bricht die Glocke über uns herein, niemand sagt, dass wir den Raum verlassen müssen, also bleiben wir da. Zwei Burschen „krochen“ mit quietschenden Sohlen, es gibt Applaus, der Tanz wird mit dem Handy gefilmt und verschickt. Mittlerweile hat jemand den Satz „Ausbeutung der Dritten Welt beenden“ in den Himmel geschrieben.

Die Handys verschwinden in den Hosentaschen, piepen noch eine Weile heraus. Nun gibt es Gelegenheit, die Spitzenkandidaten und ihre Programme zu studieren. Interviews in Tageszeitungen sollen auf Emotionen, rhetorische Mittel und Sachthemen hin analysiert werden. Mölzer-, Stadler- und Martin-Interviews werden bevorzugt, der Stapel mit SPÖ, ÖVP und den Grünen bleibt übrig. Am lustigsten ist die FPÖ, die fetzen wenigstens ordentlich, Tag der Abrechnung und so, wird die Auswahl begründet.

Die Lehrerin steckt den Kopf in die Klasse, schlängelt sich durch die Sitzreihen und tuschelt mir ins Ohr. Eine Problemklasse, lernschwach, die werden nächstes Jahr geteilt, sagt sie. Übrigens, möchten Sie das Referentenhonorar überwiesen, oder soll ich es jetzt von den Schülern einsammeln? Die Workshops für Erstwähler werden zwar vom „Zentrum Polis“, einer vom Unterrichtsministerium eingerichteten Servicestelle für politische Bildung empfohlen, Mittel für die Durchführung gibt es keine. Diese sind für Kampagnen, wie „Entscheidend bist du!“, aufgebraucht worden, die Folder sind weiterhin lieferbar. Die Lehrerin bedauert, dass der Elternverein der Schule momentan ebenso leere Kassen habe, erst unlängst beteiligte er sich am Kauf eines neuen Beachvolleyball-Netzes und von Seifenschaum-Spendern in den Schülertoiletten. Daher müsse man bei Veranstaltungen die Eltern zur Kasse bitten, unangenehm, aber Realität.

Ein lauter Disput über Manipulation und Lüge der Spitzenkandidaten unterbricht uns. Zwei Burschen halten Hannes Swoboda für ehrlicher als Ulrike Lunacek, da sie bei der Volksabstimmung 1994 gegen die EU gestimmt habe. Die Lehrerin legt den Zeigefinger an die Lippen. Ein Mädchen zeigt auf und präsentiert ihre Beobachtungen. Die Politiker zielen auf die Emotionen der Wähler ab, sie schüren Angst und Neid, schaffen Feindbilder, verwenden allesamt Schuldzuweisungen, zum Beispiel, wer die Wirtschaftskrise verursacht habe. Vorherrschende Themen sind der Türkeibeitritt, Homoehe und Islam. Sachargumente habe ich kaum welche gefunden, sagt sie abschließend. Die Schüler klopfen mit den Fingerknöcheln auf die Tische. Vergiss die Politiker, du musst die Inhalte der Politik checken, bevor du wählst, rät ihr Banknachbar. In einer Minute wird es läuten, die ersten SMS treffen ein, die Lehrerin bedankt sich für den Workshop, Ernst Strassers Interview wird in Schultaschen gestopft, ich wünsche ein erfolgreiches Schuljahr – und eine gute Wahl! Rrrrrring. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2009)

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