Christopher Clark: "Niederlagen sind sehr gute Lehrerinnen"

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Die heutige multipolare und globalisierte Welt gleicht dem System vor dem Ersten Weltkrieg, sagt der Historiker Christopher Clark. Aber heute würden Konflikte über viele Wege ausgetragen.

Sie sind Australier und sprechen perfekt Deutsch – wie kommt das?

Christopher Clark: Meine Frau ist Deutsche – und ihre Eltern haben sich geweigert, Englisch zu sprechen. Aber ich habe zu der Sprache auch eine Affinität. Obwohl ich sie nie formell gelernt habe.

Sie haben auch ein Standardwerk zu den Preußen geschrieben. Was ist von diesen heute eigentlich noch übrig?

Was jedenfalls nicht übrig geblieben ist, ist eine starke Nostalgie für das preußische Staatswesen. Das ist eines der Rätsel der preußischen Geschichte: Nach der Auflösung per Gesetzesakt 1947 sind die Menschen nicht verzweifelt. Sie haben sich nicht zu Preußen bekannt. Es gibt Brandenburger und Schlesier und Pommern – das sind bodenständige Identitäten, die bis heute überdauert haben, aber die Preußen sind vergessen worden. Doch gewisse Eigenarten sind schon übrig geblieben, vor allem die preußischen Tugenden: Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, eine unbestechliche Verwaltung, ein starker Rechtsstaat.

Österreich und Preußen waren nicht die besten Freunde.

Ja, das war eine der großen und faszinierenden Rivalitäten der europäischen Geschichte.

Hat Österreich in dieser Rivalität mit Preußen am Ende gar gesiegt?

So habe ich das noch nicht gesehen, aber ja: Lange sah es so aus, als hätte Österreich verloren. Aber allen Erwartungen zum Trotz ist Österreich wieder aufgestanden und Preußen nicht mehr.

Wo sehen Sie heute Überbleibsel der Donaumonarchie?

In der österreichischen Hälfte gab es eine ausgeklügelte Mechanik des Interessenausgleichs zwischen den Nationalitäten – vielleicht war das sogar zu ausgeklügelt. Man hat ständig getüftelt und gebastelt an diesem Gefüge. Das kann als Vorbild dienen für das, was man heute EU nennt.

Die Funktionsweise der EU ist ja überhaupt etwas, womit auch die Deutschen aus der Zeit des Heiligen Römischen Reiches einiges an Erfahrung haben, oder?

Absolut. Die Deutschen sind erst sehr spät zum Nationalstaatlichen gekommen. Die Geschichte Deutschlands – und auch Österreichs – ist die Geschichte eines föderal gegliederten Staatengefüges, das auch immer ganz gut geklappt hat. Insofern gibt es aus historischen Gründen Affinitäten der Deutschen und Österreicher zur EU.

Heißt, die Deutschen und Österreicher können sich aufgrund ihrer Geschichte besser mit einer abstrakten Verwaltungseinheit wie der EU abfinden als etwa die Franzosen?

Ja, für den größten Teil ihrer Geschichte haben die Deutschen und Österreicher in einem solchen Staat gelebt. Und sie sind damit ganz gut gefahren. Die Zeit des nationalen Absolutismus war kurz und absolut desaströs.

Jetzt kommen wir zum Jahr 1914. Kann man sagen, dass wir uns heute in einer ähnlichen Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg befinden – oder ist das zu platt?

Letztendlich kann man das schon behaupten. Nach dem Kalten Krieg hatten wir Unipolarität. Es gab nur noch Washington im Status einer Supermacht, die die Welt dominierte. Inzwischen ist dieses Paradigma aber auch schon passé. Heute haben wir es mit einem genuin multipolaren System zu tun. Der Vorsprung der Amerikaner im militärischen Sinn ist natürlich noch immer vorhanden, und er ist groß. Aber trotzdem entstehen neue regionale Machthaber, die nicht mehr kontrollierbar sind von Washington: die Türkei und der Iran. Natürlich China. Und auch Russland ist stark im Kommen. In dieser Multipolarität zeigt sich die Ähnlichkeit zum Jahr 1914.

Auch die Wirtschaft war vor dem Ersten Weltkrieg stark globalisiert.

Deswegen ist er so schnell zum Weltkrieg geworden, weil die Welt so vernetzt war. Dabei waren viele Zeitgenossen überzeugt, dass die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit einen großen Krieg garantiert verhindern werde.

Eine Einstellung, die wir heute auch kennen.

Diese Vernetzung wurde schon damals als Garantie des Friedens verstanden – und hat tatsächlich zur raschen Globalisierung des Krieges geführt. Insofern ist die Globalisierung kein Schutz vor großflächigen Konflikten.

Kann man das auch heute beobachten? Nie war die Welt vernetzter – und trotzdem scheint es, als würden wir uns mitten in einem Wirtschafts- und Propagandakrieg zwischen Ost und West befinden.

Diesen neuen Kalten Krieg gibt es. Und gut, dass er kalt ist – in den meisten Gegenden. In Syrien und der Ukraine ist er heiß. Was man aber beobachten kann, ist, dass die russische Staatsführung vielleicht früher und besser über die Lehren des ersten Kalten Krieges nachgedacht hat als die Sieger. Das ist oft so in der Geschichte. Siege sind schlechte Lehrer, aber Niederlagen sind sehr gute Lehrerinnen. Die Russen haben stark unter der Degradierung nach der Niederlage im Kalten Krieg gelitten. Wladimir Putin, seine Berater und auch der russische Generalstab nehmen daher heute das Thema der nonlinearen Kriegsführung sehr ernst. Heute läuft das über viele Proxys: Über möglichst viele verschiedene Schienen werden Unsicherheit und Verwirrung geschürt.

Wird der Krieg so nicht zum Selbstzweck? Verliert man nicht das Ziel aus den Augen?

Was verloren geht, ist die große clausewitzsche Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden. Clausewitz war der Meinung, dass man da klar unterscheiden muss. Die Russen attackieren heute auf vielen Ebenen, finanzieren rechte oder linke Gruppen, um die EU zu untergraben, oder sie legen immer wieder die Konflikte zwischen EU und Nato offen – das ist natürlich zermürbend.

Das klingt irgendwie nach dem, was die Amerikaner mit der Sowjetunion getan haben.

Die Russen haben aus dem Kalten Krieg gelernt. Aber die Amerikaner waren damals auch meistens transparenter. Sie haben Diktatoren unterstützt, auch grausame, solange sie gegen den Kommunismus waren, das war klar und berechenbar. Heute gibt es diese binäre Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht mehr. Es gibt eine postmoderne Vielfalt von Zielen und Vorstellungen – auf allen Seiten.

Das führt auch zu einer heillosen Verwirrung. Heute bombardieren die Russen Islamisten in Syrien – und Washington weiß nicht so recht, ob das gut oder schlecht ist.

Sehen Sie das einmal durch Putins Augen: Ist das nicht unheimlich klug? Die Leute werden immer wieder verblüfft und wissen nicht, was sie dazu meinen sollen. Sogar die harten, religiösen Konservativen in Amerika haben heute ein bisschen Sympathie für Putins Russland. Es ergibt sich heute ein gebrochenes Bild, in dem eine eindeutige Zuteilung von Köpfen und Motiven in eine binäre Struktur nicht mehr möglich ist.

Trotzdem reden wir gerade nur von Russland und den USA. Es gibt aber auch Analysten, die das als Zwischenphase sehen und eine neue bipolare Welt mit den Supermächten Amerika und China vorhersagen.

Daran glaube ich nicht. Chinas Aufstieg ist nicht zu verleugnen. Aber dieser Aufstieg findet in einer Welt statt, in der es bereits mehrere regionale und globale Mächte gibt. Als die USA zur Supermacht aufgestiegen sind, waren die ehemaligen europäischen Großmächte entweder ausgeblutet oder besiegt – damals gab es nur Amerika. Dann kam durch den Zweiten Weltkrieg eine zweite Supermacht dazu – und die Kernwaffe konserviert die binäre Struktur des Kalten Krieges. Aber China kommt jetzt in eine ganz andere Welt.

Hat Europa seine Rolle in dieser Welt schon irgendwie definiert?

Nein. Europa hat auch kein Sicherheitskonzept entworfen. Europa kann mit der ukrainischen Sache nicht umgehen, Europa hat noch nicht einmal sein Verhältnis zur Nato geklärt. Österreich ist nicht in der Nato. Und Frankreich hat ein anderes Verhältnis zur Nato als etwa Deutschland. Das ist ein sehr komplexes Gefüge – und eine intelligente Staatsführung wie jene in Moskau weiß ganz genau, wie man diese Schwächen ausnützen kann.

Ein dezentral organisiertes Europa ist einerseits flexibel – aber auch entscheidungsschwach. Ist das mehr Vor- oder Nachteil?

Wenn man so entscheidungsschwach ist, kann man die europäischen Werte auch nicht sehr gut in der Welt vertreten und unterstützen. Die Frage ist: Wie geht der Weg weiter? Es kann sein, dass man einfach weitermacht wie bisher. Oder es wird ein stärker föderal gegliedertes, stringentes Europa entstehen. Aber sicherlich nicht im Rahmen der heutigen Europäischen Union. Es wird eine Union innerhalb der Union geben müssen. Aber das ist Zukunftsmusik – und ich bin ja Historiker.

Steckbrief

Christopher Clark (55) gehört zu den bekanntesten Historikern der Gegenwart. Der gebürtige Australier lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College in Cambridge. Für sein Buch „Preußen“ erhielt er 2007 den renommierten Wolfson Prize.

Sein aktuelles Buch zur Entstehung des Ersten Weltkriegs, genannt „Die Schlafwandler“, ist ein internationaler Bestseller. Clark, der Ende der 1980er den Niedergang der DDR in Berlin miterlebte, wurde heuer für seine Verdienste rund um die anglo-deutschen Beziehungen von der Queen zum Ritter geschlagen.

Clark war vergangene Woche auf Einladung von Bank Austria und Pioneer Investments in Wien, um die Keynote-Rede bei einer Veranstaltung zu halten. Das Thema des Abends: „Die Kunst des Investierens – geopolitische Herausforderungen und ihre Auswirkungen auf die Märkte.“
Matthias Hombauer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2015)

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