„Sie, mit Ihrem barocken G'sicht“

Zum Neujahrskonzert kam er durch Zufall. Vor allem damit aber verbindet man den Namen Willi Boskovsky. Vor 100 Jahren, am 16. Juni 1909, wurde er in Wien geboren. Eine Erinnerung.

Am 30. 1. 79 in Naters Übelkeit während des Tages, nichts gegessen. Am Abend Arztbesuch. Der Hausarzt Dr. Ignaz von Roten kommt vorbei und findet eine leichte Veränderung des Gesichtes und einen etwas behinderten Gang. Noch um 11 Uhr nachts ins Krankenhaus, Regionalspital in Visp. Es wurde eine Punktation im Rücken gemacht. Man stellte fest, dass keine Blutung erfolgt sei. Diagnose am anderen Tag: Gehirnschlag – Streifung.“ Minuziös hat Willi Boskovsky alles notiert. Anfang des Monats hatte er sein 25. Neujahrskonzert dirigiert. Ein Jubiläum, das ihm wohl niemand mehr nachmachen wird. „Und einige Kompositionen klangen animierter als sonst, und das war erfreulich. Und viele Passagen waren exakter als vor einigen Jahren, und das war besonders wichtig. Und dass man auch Gelegenheit hatte, den Walzer ,Hereinspaziert‘ von Ziehrer zu hören, der merkbar nach der Ära Strauss komponiert wurde, hatte einen besonderen Reiz. Und die Ouvertüre zur ,Schönen Galathee‘ von Franz von Suppé einmal von den Philharmonikern zu hören, war geradezu hervorragend“, zeigte sich Franz Endler in seiner Kritik mehr als zufrieden.

Auch die sich von Jahr zu Jahr steigernde Post zahlreicher Fans aller Altersklassen blieb nicht aus. Diesmal wollte sogar ein deutscher Parlamentarier ein Foto, selbstverständlich mit Widmung, ein römisches Ehepaar dem gefeierten Neujahrsdirigenten und seiner Frau persönlich danken, sollte sie ihr Weg nach Rom führen.

Bereits am 3. Jänner 1979 lud der damalige Vorstand der Wiener Philharmoniker, Alfred Altenburger, Boskovsky ein, auch das kommende Silvester- und Neujahrskonzert zu leiten. „Nach meinem Dafürhalten ist kein Superlativ hoch genug, wenn es darum geht, die Philharmoniker zu preisen“, antwortete Boskovsky postwendend. „Keine Frage für mich also, ob ich auch das nächste 26. Neujahrskonzert leiten möchte. Ich kann nur mit einem begeisterten Ja antworten. Herzlichen Dank für Auftrag und Treue.“ 20 Tage später ist alles anders. Zuerst der Schlaganfall. Später kommen Blutdruckschwankungen dazu, im Juli wird in Wien ein Niereninfarkt konstatiert. An das Neujahrskonzert ist nicht mehr zu denken.

Schweren Herzens sagt der mittlerweile 71-Jährige ab. Zuerst dem Philharmonikervorstand, dann, Mitte Oktober, seinen „lieben philharmonischen Freunden“. „Sie können sich denken, dass mir der Entschluss, auf dieses Konzert zu verzichten, nicht leicht gefallen ist, nach 25, wie ich glaube, erfolgreichen Jahren schönen Musizierens mit Ihnen. Für mich waren es Stunden glücklicher Erfüllung“, schreibt er ihnen, „von ganzem Herzen“ dankbar „für viele Stunden musikalischen Genusses“.

Eine Ära ist zu Ende. Zwar spekulierte Boskovsky in späteren Jahren, wo er mit seinen „Sträussen“ in aller Welt erfolgreich war, auf ein philharmonisches Comeback, aber dazu ist es nicht mehr gekommen. Auch nicht zur Realisierung der möglicherweise nur als Pointe formulierten Idee, es einmal auch mit dem anderen Wiener Orchester zu versuchen und mit den Wiener Symphonikern zu Neujahr aufzugeigen.

Boskovskys frühestes Interesse aber galt dem Fußball. Nicht selten zum Ärger seiner Mutter. Schickte sie ihn einkaufen und traf er auf dem Weg Freunde, die gerade einen Tormann brauchten, stellte er sich sofort zur Verfügung. Auch das neue Sonntagsgewand hinderte ihn nicht, seinen Tormannambitionen nachzugehen.

Gab es sonst keine Gelegenheit, musste die Wohnung als Fußballplatz herhalten. So lange, bis ihm die Mutter den Gummiball, ein Geburtstagsgeschenk, wegnahm. Er sollte diesen Verlust als größten Schmerz seiner Jugend sehen. Auch das Theater hatte es ihm angetan. Allerdings durften nur Hausparteien dabei sein, wenn er sein Kasperltheater bespielte. „Freut euch des Lebens“ stand über der Bühne, er selbst spielte Faust.

Mit fünf zeigte er erste musikalische Ambitionen. Zuvor hatte er gerne der älteren Schwester beim Klavierspiel zugehört. Jetzt aber entdeckte er die Nähmaschinen seiner Mutter, simulierte mit zwei Kochlöffeln ein Spiel auf der Geige und sang dazu. Die Mutter wollte damals schon, dass er Geige lernt. Boskovsky hingegen träumte davon, „eine große Sportgröße zu werden“.

Das aber verflog, und mit neun begann er mit der Geige. Zuerst in einer Musikschule in Mariahilf. Als der Lehrer starb, wechselte er über Vermittlung eines Freundes seines Vaters in eine Musikschule nach Hietzing. Hier erkannte man rasch sein besonderes Talent. Mit 14 versuchte er es an der Musikakademie. Beim ersten Mal scheiterte er, beim zweiten Mal bestand er die Aufnahmsprüfung. Damit war seine Weg vorgezeichnet, denn zu seinen Lehrern zählten gleich zwei philharmonische Konzertmeister: Arnold Rosé und Franz Mairecker. 1932, mit 23 Jahren, schloss er sein Studium mit Auszeichnung ab.

Schon während dieser Jahre nutzte er jede Möglichkeit aufzutreten. Egal, ob mit Klavier oder Orchester. Als er hörte, dass man in Baden für den Sommer einen Konzertmeister sucht, fuhr er kurz entschlossen hin, ging in den Kurpark, sprach den Kapellmeister an, nahm eine Geige von einem Musiker, spielte vor und hatte die Stelle. Für ihn auch eine ideale Gelegenheit, sämtliche großen Violinkonzerte aufzuführen.

Bereits davor, mit 20 Jahren, substituierte er im Orchester der Wiener Staatsoper, „und zwar an einem hinteren Bratschenpult, bei ,Elektra‘, wo ich recht und schlecht am Gängelband meines Pultkollegen mein Heil suchte“, erinnerte er sich später.

Bei einer „Meistersinger“-Aufführung, die Franz Schalk dirigierte, durfte er bereits bei der ersten Geige mitspielen. Kaum war das Studium beendet, nutzte er auch schon die erste Chance und setzte sich bei einem Probespiel für die Staatsoper unter 45 Konkurrenten durch. Sein Platz war am hintersten Geigenpult, unmittelbar vor der Pauke.

Auch im Rückblick wollte er diese insgesamt sieben Jahre nicht missen, hat er doch hier seinen „Sinn für Rhythmus eingehämmert bekommen“, aber auch erste Erfahrungen mit einem Kollegen gemacht, der partout nicht wollte, dass der Begabte sich nach vorne arbeitet. Nachdem er aber doch immer wieder Gelegenheit bekommen hatte, heikle Soli zu spielen, wurde er 1939 zum Konzertmeister berufen. Zu verdanken hatte er diesen Karrieresprung dem Dirigenten Hans Knappertsbusch.

Boskovsky saß am ersten Pult, als Richard Strauss seine Version von Mozarts „Idomeneo“ dirigierte, Bruno Walter ein „Philharmonisches“ mit einem Concerto grosso von Händel leitete. Unter Furtwängler, Schuricht, Moralt, Böhm, Mitropoulos, Kubelik oder Hindemith trat er als Solist in den großen klassischen und romantischen Violinkonzerten, aber auch bei Mozarts Sinfonia concertante oder dem Brahms-Doppelkonzert in Wien, bei zahlreichen Festspielen und Tourneen auf. Unter Karajan, dann noch einmal am Ende seiner Konzertmeisterkarriere, 1969 bei der 100-Jahr-Feier der Wiener Staatsoper unter Leonard Bernstein, brillierte er mit dem heiklen Violinsolo in Beethovens „Missa solemnis“.

1937 gründete er das Boskovsky-Trio, das er später zu einem Quartett erweiterte. 1948 folgte das Wiener Oktett, wozu es durch Zufall gekommen ist. 1947 wurde Willi Boskovsky als Gastkonzertmeister des Luzerner Festspielorchesters verpflichtet. Zudem sollte er einen Kammermusikabend geben. Nicht zuletzt, um Kollegen eine Möglichkeit zu geben, in der damaligen Zeit in die Schweiz zu reisen, kam er auf die Idee mit dem Oktett.

„Es sollten möglichst viele Kollegen oder Freunde im damaligen Schweizer Paradies die Möglichkeit haben, die in Österreich unerreichbaren Dinge aller Art in der Schweiz einzukaufen. Vom Schuhband bis zur Schokolade, von der Schweizer Uhr bis zu den rar gewordenen Bogenhaaren oder Saiten“, kann man in einer Geschichte dieses auch für Schallplatten häufig gefragten Ensembles aus der Feder von Boskovskys Bruder, dem philharmonischen Klarinettisten Alfred, lesen.

Im Mai 1954 starb Clemens Krauss, Dirigent des Neujahrskonzerts, überraschend während einer Tournee in Mexiko. Erst im Herbst setzte sich die philharmonische Hauptversammlung mit der Nachfolgefrage auseinander. Grundsätzlich war man sich bald einig: kein Dirigent, sondern der Erste Konzertmeister als Stehgeiger sollte künftig das Silvester- und Neujahrskonzert leiten. Plötzlich aber wurde nicht nur diese Variante in Frage gestellt, sondern diskutiert, ob man dieses längst bestens eingeführte Konzert überhaupt weiterführen sollte. Es kam zu einer Abstimmung über mögliche Dirigenten, die Erich Kleiber, der nur eine Gegenstimme erhielt, haushoch für sich entschied. Der aber lehnte ab. Erst am 13.Dezember einigte man sich auf Willi Boskovsky, der schließlich ein Vierteljahrhundert dieses Konzert prägen und selbst zu einer Institution werden sollte.

Maßgeblichen Einfluss auf diese Entscheidung hatte der damalige Philharmonikervorstand Hermann Obermeyer. „Na, der Boskovsky soll's machen, vom Pult aus“, zitiert ihn Boskovsky selbst. Der hatte Zweifel, ob er der Herausforderung gewachsen sei. Aber auch die zerstreute Obermeyer: „Aber Sie, mit Ihrem barocken G'sicht, Sie wern des scho machen.“

„Den Bogen in der Rechten, schlug er den Takt und gab die Einsätze. Ging's aber darum einer Wendung einen besonderen Schmiss und rhythmisch betonte Prägnanz zu verleihen, eine Melodie mit erhöhter Glut zu singen und werden zu lassen, sinnlich, verführerisch, oder eine zierliche Figur pikant zu pointieren, ihr tänzerische Leichtigkeit und Flugkraft zu geben, dann nahm er die Geige unter das Kinn, setzte den Bogen an und zwang die Kollegen in seinen Bann, in seine musikantische Begeisterung wie nur je ein Dirigent und Pultvirtuose“, schrieb Heinrich Kralik über Boskovskys erstes Neujahrskonzert 1955. Und bezeichnete ihn darin auch gleich als „Künstler, dem wienerische Art, dem die rechte Walzerseligkeit oder die geistreichen und verspielten Zweivierteltakte wahrhaft in den Gliedern liegen“.

Die Folgen ließen nicht auf sich warten. Mit einem Mal war aus dem hoch geschätzten philharmonischen Konzertmeister ein bald auch von zahlreichen bedeutenden Orchestern im Ausland gesuchter Dirigent geworden. Jahre später sollte Elisabeth Schwarzkopf sagen, er wäre für sie der idealste Dirigent gewesen.

Verstorben ist der „Walzerkönig des Eurovisionszeitalters“, wie man ihn in einem Nachruf charakterisierte, am 21. April 1991 an den Folgen eines dritten Schlaganfalls in seiner Schweizer Wahlheimat. Begraben wurde er in einem von der Stadt Wien ehrenhalber gewidmeten Grab am Wiener Zentralfriedhof.

Wien und die Wiener Philharmoniker waren nun einmal das zentrale Anliegen seines Lebens. Sie haben ihn übrigens nach seinem letzten Neujahrskonzert noch zweimal ans Pult gebeten: zur Eröffnung des Philharmonikerballs 1979 und 1982. Hier dirigierte er den Strauß-Walzer „Freuet Euch des Lebens“. War es Zufall, dass Willi Boskovsky in jüngsten Jahren diesen Satz über sein Kasperltheater geschrieben hatte? Der Kreis, ohne dass man es damals ahnen konnte, hatte sich geschlossen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2009)

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