Ach, Mixnitz

Über die neu sanierte Murbrücke fährt ein Traktor mit einer hohen Fuhre, biegt in die surreal schimmernde Auenwiese ein. Unvermutet nährt der Novemberregen, lässt noch spätes Glück in jungen Freundschaften erblühen. Und sonst? – Rückkehr in mein Heimatdorf.

Die Novembertage sind prachtvoll, sonnengetränkt und warm, die Kalkfelsen des Ratengrats, dieses südwestlichsten Ausläufers der Hochlantsch-Röthelstein-Bastei, die mit der Bärenschützklamm ein Juwel birgt. Zu bestaunen ist dieses von Mixnitz aus. Der eigenwillige Name meines am linken Murufer gelegenen Heimatdorfes zeugt von seinem slawisch-karantanischen Urgrund, seiner Schicksalsgemeinschaft mit dem Süden. Die Wehr, das einstige Posthaus, die Magnesittürme, der Bahnhof, das während des Südbahnbaus 1844 errichtete Ensemble meiner Vorfahren mütterlicherseits liegen wie verstreute Quader im engen Tal, lichtumflutet. Doch Mixnitz umfängt mit seiner nihilistisch anmutenden Phonetik auch morbider Charme; es döst, trotz seiner spektakulären Naturschönheiten, in Agonie und Lamento zentral gelegen im Abseits, droht in tumber Laune seine Zukunft zu verpassen. Und mich mahnt nach all den Jahren des Unterwegsseins das verwaist-verwitterte Elternhaus: „Rette mich!“ Oder erliege ich jetzt,in der späten Woher-wohin-Odyssee des Lebens, trügerischen Sehnsüchten nach Heimkehr? Wie dem prekären Erbe in brüchigen Zeiten gerecht werden?

Buchen, Ahorn, Eschen recken am Steilhang ihre Kronen in den Herbsthimmel, stehen wie barocke Wächter da: schön und vergänglich. Der rege Verkehr, unten im Tal, ihr eiliger Bote. Im Kletter-Dorado über mir schlagen Karabiner aufeinander, klingen wie ein Echo aus Jugendtagen. Da riefen Sigi, Sepp, Gerhard, auch Bernd auf Routen wie „Südrampe“, „Kanten/Verlängerung“, „WieglWogl“ mir zu: „Stand, nachkommen!“ Das Signal zur Mutprobe: Blick nach oben, Herzklopfen, Tritt für Tritt, Griff um Griff hinauf, gratwandern zwischen verwegen und verletzlich,Zittermomente, der Abgrund, seine Anziehung, Kräfte bündeln. Weiter! Geglückter Spreizschritt über die Kante, windumweht. Auf schmalen Grasbändern Losungen von Gämsen, Steinböcken, drüben die Narzissenwiese, verdeckt, die Rote Wand. Irgendwann, aus schwitzenden Gesichtern, die blitzenden Blicke füreinander, rundum Tiefen, Weiten und die Lust auf viel mehr.

In diesem Damals, als die Bücher Castanedas, Hesses, Kerouacs, Pirsigs uns abenteuerliche Fährten in die Welt wiesen, verlachten wir übermütig Heimatdichter, aus deren Versen wir hauptsächlich „wilde Jungfräulichkeit“, „patriarchalische Einfachheit“, „altererbten Heimatfrieden, den kein Fremderstörte“, herauslasen. Für uns war die vielfältige Heimat, die schöne, Teil des großen Ganzen: das Ratengrat der Alpen, mit seinen urzeitlichen Kalkeinschlüssen, ein ferner Nachbar von Atlas, Kaukasus, Himalaya, die von steilen Waldkogeln gesäumte Mur war uns die Ader zu den Weltmeeren.

Die närrischen Wilden

Unsere Väter hatten, schicksalhaft, ihre ersten Erfahrungen mit der Fremde als junge Krieger gemacht; wir, im Dorf oft als „die närrischen Wilden“ verschrien, wollten in der Fremde lustvoll und wach zu Hause sein. Damals, vor 40 Jahren. Jetzt, im Drüber und Drunter der Zeit, in der unser Planet ernstlich krankt, irrationale Dämonie Angst und Schrecken verbreitet, ganze Länder kollabieren, Millionen Menschen auf der Flucht sind, im vermeintlich Vereinten Europa das Florianiprinzip im Schnelllauf die Solidarität killt, Freiheit und Vertrautes wanken, geraten Heimat und Zuflucht in den Fokus.

All das und persönliche Reminiszenzen haben mich an diesem Novembertag heraufgeführt in das Refugium Natur. In ihr die Balance stabilisieren, Kräfte sammeln, den Überblick wahren wie einst, und doch ganz anders. Heute frage ich, nach vergangener Fülle und Versehrtheiten, was geht noch? Wo kann ich, jetzt 60 Jahre alt, kleinzellig in der großen Dynamik wirken? Und mit wem? Denn die Zeiten der solitären Amazone sind vorbei, wurden knapp überlebt.

Silbrig schwarz windet sich die Mur, die einst mein steinernes Fantasieboot des „Fort, fort“ umströmte, wie eine erfüllte Verheißung nach Süden. Der Globus wurde an vielen Orten erkundet, unzähligen, oft erstaunlichen Menschen gegenübergesessen, und so manche filmische Übersetzung ist geglückt, leidenschaftlich Geschriebenes auch. Der fein ziselierte, im Licht flirrende Wasserteppich des Schotterteichs signalisiert: Es ist gut, wie es war, im Nachhinein. Geglückt ist so einiges, weil meine DNA, mit Spurenelementen dieser landschaftlichen Tektonik versehen, kultiviert wurde; weil ich in mir Ländliches und Städtisches, Heimatliches und Weltläufiges trage; und weil das Unbändige nicht ganz gezähmt wurde. Die dunkel glitzernden Fluten im Durchbruchstal verleiten zwischen Signaturen der Moderne – Schnellstraße, Kondensstreifen, Hightech-masten – zu Kühnerem. Sie erwecken den Mythos von der beflügelten Riesenechse, die in Vorzeiten zwischen der nahe gelegenen Drachenhöhle und den dunklen Flussgestaden mordend ihr Unwesen getrieben haben soll. Szenen von Angst, Schrecken und Errettung tauchen auf: von einem Tapferen, der das Ungetüm auf dem Weg zur Tränke überlistete, in der steilen Rinne Sicheln und Sensen verkeilte; der aufgeschlitzte Feuerspeier mit Schweif und Flügeln tobte, verendete fürchterlich brüllend. Der Held soll mit einem Gut am Fuße des Röthelsteins belohnt worden sein. Dass dieses viele, viele Jahrhunderte später samt Wänden, Wäldern und Wiesen in den Besitz meiner väterlichen Vorfahren gelangt sein soll, ist eine kühne Fügung. Prägte unergründlich vielleicht meine DNA mit. Also den unberechenbaren „Wer hätte das gedacht?“-Geist in den akuten Zeiten einsetzen. Dem Vergeblichen, Ignoranten und Perfiden zum Trotz.

Sei's drum, dass vor neun Monaten mein in Politkreisen wiederholt vorgetragenes Konzept eines integrativen Modellprojektes für den ländlichen Raum vom zuständigen Landesrat mit den Worten quittiert wurde: „Super, Frau Doktor, der Titel is scho amol guat. Ich geh jetzt a Woch'n Schi foahrn, do hob ich Zeit zum Lesen. Danoch red ma weiter.“ Weiter war nichts. Der mittlerweile abgewählten bürgermeisterlichen Parteigenossin soll der nunmehrige Ex-Landesrat im wohldotierten Ruhestand schon vor drei Jahren im Vertrauen geflüstert haben: „Moch da kane Sorgen, des mit der Integration und so, des sitz ma aus. Die soll damit jetzt a bissl anrennen.“ Ja, ja. Die fahrlässigen Versäumnisse. Im heurigen Februar stand der Nahe Osten mit seinen Flüchtlingen noch nicht an der südsteirischen Grenze, aber im Mittelmeer waren schon Hunderte ertrunken, Tausende Boatpeople in Lampedusa gestrandet. Das Drama war längst im Gange, seine Dynamik, nordwärts, absehbar. Die UNO legte bereits im März 2013 einen alarmierenden Flüchtlingsbericht vor, der das aktuelle Szenario exakt prognostizierte, Sofortmaßnahmen forderte. Einzig Schweden reagierte. Vonwegen: „Mitteleuropa wurde vom Flüchtlingsstrom überrascht. Und die Merkel soll jetzt nur machen.“ Was also tun zwischen Damaskus, Paris, Brüssel und Berlin; zwischen Wien, Graz und Mixnitz? Wie in Zeiten karger Geldtöpfe Synergien schaffen, lokale Bedürfnisse mit transnationalen Dynamiken koppeln? Großräumig denken und kleinzellig handeln, kreativ aktive Kräfte bündeln, Verbündete gewinnen, auf Fortune vertrauen. Das ist, trotz eifersüchtiger Querschläge, während der vergangenen vier Jahre in Mixnitz geschehen. Vieles vergeblich.

Jetzt eröffnet Mayr-Melnhof der Region eine Chance. Der Major Player investiert unter dem Motto „Aufeinander schaun/Miteinander was traun“ in das innovativ-integrative GREEN//MIX-Projekt, holt für diese auf Naturbewusstsein, Ökotourismus wie Integrationssäulen basierende Initiative mit der Gemeinde, dem Alpenverein und dem „Almenland“ entscheidende Partner unter ein Dach. In das neu zu adaptierende Gemäuer meines Elternhauses wird Leben einziehen, wird von Einheimischen und „Zuagroasten“ gewerkt, gelernt, genossen werden: in Fun/Risk/Responsibility-Workshops, im Kletterraum, in Deutschkursen, im Info-Gastro-Point/Dorfladen, bei Natur/Kultur/Stadltreffen, Wald/Wild/Lebensraum-Sessions. Der GREEN//MIX-Impuls wird auch die jährlich durch das Dorf ziehenden 40.000 Berg- wie 60.000 Radwanderer bewegen. In der Mixnitzer Grazer Straße 16 werden im Idealfall Hunger und Durst, Lebenslust und Wissensdurst gestillt. Und der alte Stadl, mit neuem Pfiff versehen, kann für Konzerte, Theater, Lesungen angemietet werden, soll sich à la longue finanziell selbst tragen.

Zukunftsweisende Initiativen

Der Investor von GREEN//MIX, Mayr-Melnhof, denkt in weiträumigen Dimensionen. Vielleicht lassen sich die Verantwortlichen auch von zukunftsweisenden Initiativen wie dem „Mag das“-Hotel der Caritas, dem an dörflichen Gemeinschaftswerten orientierten „Gleis 21“-Wohnprojekt der Diakonie inspirieren. Dort werden ab 2018 in Wien in einem geförderten, viergeschoßigen Holzbau Alt und Jung, Einheimische und Zugewanderte in einem losen Wohnverband miteinander leben. Da Mixnitz nicht Wien ist, würden die GREEN//MIXler am Waldrand, gegenüber der dörflichen Bahnstation wohnen; wären im Halbstundentakt von Bahn und Bus rasch in Graz, Frohnleiten, Leoben, Bruck an der Mur. Na, schlecht? Wenn nur alle dranbleiben, die Chance nicht verpassen!

Von oben, irgendwo am „Berglandpfeiler“, tönt es „Achtung, Steinschlag“, gleichzeitig pfeift Felsbruch in die Tiefe, schlägt dumpf am Fuße der Wand ins Herbstlaub ein. Nichts passiert. Wieder einmal bleiben Abenteuer und Risiko, Schicksal und Verantwortung in Schwebe wie so manch Dramatisches auf meiner Lebenstour. Es begann früh, als Röteln während der Schwangerschaft meine Mutter in Angst versetzten. Später beim Hutschen am Kaskadenfall, als eine morsche Stegstange brach, der Vater seine Fünfjährige barg und sagte: „Schön bei mia bleib'n, mei Dirndl“; der frühe Tod der Mutter; die Traumata meiner Jugend auf der heimatlichen „Russenstraße“; Jahre danach Grenzwertiges: die Löwin auf Noga Island, die Landminen in Oshigambo, der Ambush in Katlehong, die Beschüsse in Suchumi, auf den Spuren der Roten Khmer am Tonle Sap, die „Letzte Reise“ mit Inge Morath in den Grenz.Räumen, verirrte Gefühle mit „Rotem Mohn im Winter“. Und dann, 2009, die Karzinom-Diagnose mit dem wesentlichen Satz: „Ihr Leben wird nicht mehr sein, wie es war. Wie es sein wird, liegt allein an Ihnen.“ Es ging ums Ganze: Ängste, Zwiespälte, die Balance von stark und schwach, Erwartungen und Enttäuschungen, Einsamkeit und Geborgenheit, Disziplin. Es ging und geht in dieser Metamorphose um den inneren Friedensschluss, auch mit dem Erbe der zerfallenen Familie in meinem Sisyphus-Dorf.

Dort zieht jetzt diesiger Dunst über das Tal, verschleiert den Fernblick nach Norden, marmoriert die grandiose Hochschwab-Südwand. Über die neu sanierte Murbrücke fährt ein Traktor mit einer hohen Fuhre, biegt in die surreal schimmernde Auenwiese ein. Unvermutet nährt der Novemberregen, lässt sogar noch spätes Glück in jungen Freundschaften erblühen. Und sonst? Ich weiß es nicht. Ach, Mixnitz. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

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