Das Horten von Müll

Mit Sogwirkung: Satu Taskinens philosophischer Familienroman„Die Kathedrale“.

Der Mensch ist eine Kathedrale.“ In derselben Weise, in der der Sakralbau Gefäß für den Heiligen Geist ist, ist der menschliche Körper Heimat für die Seele. Die „bunten Fenster der Kathedrale“ entsprechen dabei den Augen des Menschen, sie sind der „Spiegel seiner Seele“.

Der philosophische Ansatz von Satu Taskinens berührendem Roman ist unverkennbar, er gipfelt in dem Resümee, dass „das meiste auf der Welt falsch läuft“ und „eine Art Kampf“ sei. So tragen sowohl die Kathedrale – gemeint ist der Stephansdom – als auch Tea Spuren der Zerstörung an sich. Beide sind sie Stückwerk und nicht in dem Maß realisiert, in dem sie es hätten sein können.

Tea leidet unter dem Messiesyndrom. In ihrer Wohnung türmen sich Stapel von alten Zeitungen, Kisten und Pyramiden von Joghurtbechern. Sie gleicht einem Labyrinth, durch das man sich hindurchschlängeln muss. Tea hortet Müll. Sich von ihm zu trennen kommt einer Entscheidung über Leben und Tod gleich. (Wenn mir all dies genommen wird, sterbe ich.) Weshalb, so fragt man sich, kann das Horten von Müll zu einer Frage des Überlebens werden?

Gebannt folgt man Teas Ausführung über 300 Seiten hinweg. Sie hat Sogwirkung. Teas Welt nimmt gefangen. Ihrer Sicht auf die Dinge ist die ihrer Geschwister gegenübergestellt. Sie haben keinerlei Verständnis für sie, obwohl sie selbst auch nicht ganz frei von Zwängen sind. Im Unterschied zu Tea können sie diese jedoch innerhalb der Norm des von ihnen Erwarteten besser kaschieren. Die Rahmenhandlung bilden das Begräbnis von Teas jüngster Schwester und die anschließende Trauerfeier, bei der die Familie nach Längerem wieder zusammenkommt.

Verdrängtes wird offenbar

Welten krachen aufeinander, lang Verdrängtes wird offenbar, bislang Ungesagtes wird gesagt. Und zwar in voller Härte. Gnade kann Tea keine erwarten, dabei ist doch sie es, die sich vielleicht am meisten Menschlichkeit bewahrt hat– trotz ihres offensichtlichen Scheiterns. Sie weiß immerhin, dass „die Erbsünde ein Kinderspiel zu dieser echten Sünde“ ist, die schlicht und einfach darin besteht, dass man nicht Kraft oder Mut genug gehabt hat, seinen angestammten Platz auf der Welt zu finden. (Jeder hat seine Gaben und seinen Platz, beides muss er nur finden).

Tea ist nie zu ihrer „eigentlichen Sache gekommen“, sie hat ihren Platz nicht gefunden, und so ist ihr Leben zu einem Stillstand gekommen. Für sie ist es kein Müll, den sie da hortet, vielmehr sind es Erinnerungsstücke an Zeiten, da sie selbst noch inmitten des Lebensflusses gestanden ist. Der Müll ist alles, was ihr davon geblieben ist. Mehr hat sie nicht. Entrümpeln wäre gleichbedeutend mit „Aufräumen im Leben“ und dagegen wehrt sie sich lang vehement. Sie will den Schmerz, der damit verbunden ist, nicht ertragen müssen. Lieber hat sie ein „Herz aus Stein“.

Erst als sie sich zu diesem letzten Schritt überwindet, kann es so etwas wie Aussöhnung geben. Wenngleich ihr Leben an sich nicht von Bedeutung war, hat sie doch als Mutter eines Sohnes zumindest so etwas wie eine Brückenfunktion zwischen den Generationen erfüllt. Heilung liegt darin, die Konsequenz für das, was zwangsläufig falsch gelaufen ist, zu tragen. Selbst wenn es wehtut. Satu Taskinens Roman ist ein in Sprache gegossenes Meisterwerk an Lebensphilosophie. ■

Satu Taskinen

Die Kathedrale

Roman. Aus dem Finnischen von Regine Pirschel. 312 S., geb., € 22,90 (Residenz Verlag, Salzburg/Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2015)

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