Beim Kochen

Heuer beginnt das zehnte Jahr, in dem ich in Deutschland arbeite, somit steht es mir zu, mich zu äußern. Durch meine Tätigkeit als psychotherapeutische Fachärztin höre ich viele Lebensgeschichten von Menschen, die in Deutschland geboren sind oder in Deutschland leben. Es sind meist schwierige Geschichten, und immer geht es auch um Arbeit. Arbeit, die abhandengekommen ist, Arbeit, die so schlecht bezahlt ist, dass man davon kaum leben kann, Arbeit, die in Teilzeit verrichtet noch prekärer wird, weil weibliche Menschen ihre Kinder versorgen, und nicht zuletzt Arbeit, in der sich Menschen so erschöpfen, dass sie krank werden. Bei den Erzählungen geht es natürlich auch um Bedingungen in ehelichen und nicht ehelichen Partnerschaften, um Familie und Wahlverwandtschaften. In all diesen Puzzlesteinen spiegeln sich die Gesellschaft und die Möglichkeiten, die diese bietet.

Ich glaube schon lange nicht mehr, dass meine Lebensbedingungen jenen aller anderen Frauen entsprechen. Sie gleichen denen meiner Freundinnen, die sich unter ähnlichen, denkbar günstigen Bedingungen entwickeln konnten. Ichweiß, dass ich viel aus mir „gemacht“ habe, dass ichEntscheidungen getroffen habe, die es mir als Frau erlauben, mich nicht aus wirtschaftlichen Gründen in Beziehungen zu Männern zu begeben und diese aufrechterhalten zu müssen, um nicht in Armut oder Sklaverei zu versinken. Ich habe das Glück, aus einer sogenannten Akademikerfamilie zu stammen, und dennoch bin ich mir erst vor ein paar Jahren bewusst geworden, dass ich die erste Frau in meiner Familie bin, die „etwas geworden ist“. Trotz guter Ausgangslage war es offenbar erst in meiner Generation vorstellbar und machbar, dass eine Frau einen eigenen beruflichen Weg geht und ihn nicht dem des Mannes unterordnet und ihm zuarbeitet. Wirtschaftskrisen, zwei Weltkriege, nachfolgende Neuaufteilung von Ländern sowie deren Wiederaufbau haben die Menschen wählen lassen, das gemeinsame Streben lieber der Förderung eines – des männlichen – Berufes zu widmen. So gesehen ist Emanzipation, wie ich sie meiner Tochter erkläre – Lernen, eigenes Einkommen und Empfängnisverhütung –, ein sehr junges Phänomen. Jung und verletzlich.

„Je suis une femme!“ Gerade ist sie verletzt worden, es ist ein Anschlag gegen Frauenin der Silvesternacht 2015 in Köln, Stuttgart, Hamburg erfolgt, und die Schutzmänner haben nichts geahnt, nichts gesehen, und – viel schlimmer – sie fühlten sich nicht mehr in der Lage zu helfen, sie entschieden, das größere Übel von möglichen Toten zu verhindern. Sie hielten still. Damit nichts Schlimmeres geschehe, opferten sie die Frauen. 500 bis 1000 Männer sind vor dem Kölner Bahnhof in unmittelbarer Nähe des Wahrzeichens von Köln, des Doms, zusammengekommen, um zu feiern.

Wenn sich in Österreich in der Öffentlichkeit ein paar Linke zusammentun unddemonstrieren, stehen an jeder Ecke zwei zivile Polizisten, die filmen und fotografieren, das wird in Deutschland nicht anders sein. Aber in dieser Silvesternacht hatniemand Schutzbedarf gewittert? Wenn ein paar Linke zusammenstehen, wird Politik kritisiert – das ist bedrohlich! Wenn 1000 als fremdländisch beschriebene Männer feiern, wird Frauen in den Schritt gefasst und den in Schock und Angst Erstarrten Eigentum entwendet – das ist nicht bedrohlich? Frau Merkel spricht im Fernsehen von „unerträglichen Zuständen“, und während sie „auch für mich persönlich“ sagt, wirft sie einen Blick zum Himmel, und der Satz stirbt, fällt in sich zusammen. Ich kann ihn nicht mehr glauben. Ich kann Frau Merkel nicht glauben. Woher bezieht sie all die Menschlichkeit in der Flüchtlingsfrage? Was hat sie mit all den Menschen vor, die zu uns kommen und mit Selbstbestimmung der Frau keine Erfahrung haben und denken, dass jede Frau Freiwild sei, wenn sie nicht unter einem schwarzen Fetzen steckt.

Ich habe eine bosnische Freundin, die seit 1992 in Österreich lebt und arbeitet. Vor Kurzem hat sie mir im Kaffeehaus mit leiser Stimme gestanden, dass sie sich kaum Kritik an den zu befürchtenden Entwicklungen zu äußern traue, weil sie als Rechte abgeurteilt werde. Sie habe Angst vor dem Misslingen der Integration von Männern, die gewohnt sind, dass Frauen nichts zu sagen haben, sich nicht einmischen und eine dependente Stellung in ihrer aufgeblasenen Männerwelt einnehmen.

Ich habe auch Angst, dass dieser große Sprung nicht gelingt und vielleicht gar nicht gelingen soll. Eher werden unsere kleinen Errungenschaften geopfert. Möglicherweise ist Emanzipation dem Neoliberalismus gar hinderlich – je weniger Menschen denken und sich wehren, umso besser! Eine zuvor harmlose Unternehmung, wie die Silvesternacht vor dem Kölner Dom zu verbringen, kann für Frauen blitzartig etwas Gefährliches werden. Ich habe tiefe Sorge um den Einfluss patriarchaler Unkultur auf unser Leben, ob arabischer, europäischer oder sonst welcher Provenienz.

Für viele Frauen ist auch der Besuch des Münchner Oktoberfestes kein Honiglecken. Eine große Versammlung von Männern,gleich welcher Nationalität und welcher politischen Couleur, birgt überall die Gefahr von Sexismus, Frauenfeindlichkeit und mehr oder minder gewaltvollen Übergriffen. Ich sahes immer auch als Teil meiner Ausbildung zur Ärztin an, messerscharfen Witz meinen lustigen Kollegen entgegensetzen zu können,um nicht im knöcheltiefen Unrat von Anspielungen, Scherzchen und Beschämungsversuchen zu versinken. Ganz zu schweigen von den in unseren Landen tiefen, allesamt ungesühnten sexuellen Verletzungen durch Väter, Großväter, Nachbarn, Freunde, von denen meine Patientinnen und sehr selten auchPatienten berichten.

Also auch das „deutsche Volk“ und der „freundliche Österreicher“ haben ihre Lektionen noch lange nicht gelernt. Wenn aber der fette Krankenhausverwalter eines kleinenKrankenhauses in den dichten Wäldern Österreichs beim Mittagessen verkündet, dass man eh wisse, was meiner Kollegin fehle, unddabei mit seinen dicken Fingern die Größe eines Penis andeutet, kann ich ihn immer noch fragen, ob er bei sich das vermeintlichbegehrte Stück noch ohne Zuhilfenahme eines Taschenspiegels orten könne. Auf Arabisch kann ich mich nicht wehren, und die Kultur ist mir nicht vertraut, so könnte sich die Auseinandersetzung über das heiße Thema Sexualität in der Fremde in einer dummen, schmutzigen Treibjagd auf Frauen entladen.

Um mein Misstrauen zu zähmen und mehr zu verstehen, lese ich arabische Autoren, dort begegne ich einer faszinierenden Kultur und einer Religiosität, die ich respektiere. Aber es scheint eine kleine Schicht gebildeter Männer und Frauen zu sein, die das beschreibt. Wo sind die Frauen der in den Schritt greifenden Männer? Wir wissen, dass die Bildung der nachkommenden Generation innerhalb der Familie vom Bildungsstand der Frau abhängt und nicht von dem des Mannes. Das heißt, wir brauchen Männern, die verächtlich auf unsere Errungenschaften spucken, keine Aufklärungsstunden über weiblichen Lebensstil in Europa geben, sie werden uns bestenfalls auslachen. Ihre Frauen, gut versteckt unter der Burka, werden uns ebenso verlachen. „Wieso gehen die ohne männliche Begleitung auf die Straße?“, könnten sie sich fragen, und die Zweckhaftigkeit des schwarzen Tuches, unter dem man der arabischen Weiblichkeit nicht flugs zwischen die Beine kann, wird eher bestätigt als hinterfragt. Aber nicht alle werden so denken . . .

„Je suis une femme!“ Ich wünsche mir,dass viele arabischstämmige Frauen und Männer mit uns gemeinsam öffentlich aufstehen und die Freiräume für Frauen, die Entwicklungsmöglichkeiten unserer Kinder, die zarte in Gang kommende Veränderung innerhalb gleichberechtigter Partnerschaften verteidigen. Ich wünsche mir einen Aufschrei, den die rein wirtschaftspolitisch denkende Merkel nicht anstimmen wird und der rechten Gruppierungen nicht zusteht – die schreien soundso gegen alles Fremde, sind nicht minder gewaltbereit und missbrauchen Frauen auf Neue, wenn sie ihre Ausschreitungen und ihren Hass mit den sexuellen Übergriffen der Silvesternacht zu legitimieren versuchen.

Was soll ich meiner heranwachsendenTochter raten, Frau Merkel? (Warum spreche ich keine österreichischen Politiker an? Weil sie Merkels Schoßhündchen sind und wenig Eigenes zu sagen haben.)

Was also soll ich meiner heranwachsenden Tochter raten, Frau Merkel? Zieh keine kurzen Röcke an, lache in der Öffentlichkeit nicht zu laut, nimm den Pfefferspray mit, lerne Selbstverteidigung! Wenn dich ein Mann verachtet, rede nicht dagegen. Wenn er dich lächerlich macht, geh weg und weine zu Hause. Jetzt ist sie wunderbar selbstsicher, und wenn ihr ein Junge – auch er will Macho sein und probt vermeintlich männliches Verhalten – etwas sagt oder etwas tut, was sie verletzt oder beschämt, dann weist sie ihm mit Selbstbewusstsein und Schlagfertigkeit die Grenzen. Ich will, dass viele Mädchen und Jungen sich auf diese Art erfahren und regulieren lernen. „Je suis une femme!“ ■




denke ich daran,
wie sich der Satz
„Der Schnee knarzt unter den Füßen“
anfühlt & anhört


& denke darüber nach,
wie man aussieht,
wenn man aufgekratzt ist


& ich denke daran,
wie jemand Zwiebelchips erfindet;
aus Reispüree
& Zwiebelemulsion
& einer seltenen Hirsesorte aus Äthiopien


& dann denke ich kurz an nichts


& dann denke ich darüber nach,
ob es besser sei, knacken, klacken
oder klatschen zu sagen


& dann ist das Essen fertig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2016)

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