Vom Versagen des Marktes

„Die innovative Gesellschaft“: Joseph E. Stiglitz und Bruce C. Greenwald vertreten die These, staatliche Eingriffe in die Ökonomie seien nützlich, weil sie zu Innovationsschüben und zur Erhöhung der Produktion führen.

Will man die Vorteile eines möglichst freien Außenhandels zeigen, dann bedientman sich eines vor 200 Jahren in England veröffentlichten Theorems. Durch den freien Handel zwischen zwei Staaten können beide einen Vorteil haben. Das Überraschende dabei ist, so Autor David Ricardo, dass dies auch zutrifft, wenn eines der Länder in allen Produktionen unproduktiver ist als das andere. Es kann sich auf die Produktion jenes Gutes spezialisieren, bei dem es vergleichsweise weniger unproduktiv ist. Dieses Theorem der komparativen Kostenvorteile ist heute selbstverständlicher Teil jeder Ausbildung in theoretischer Ökonomie.

Aus der Richtigkeit dieser Überlegung folgt nicht, dass die Beschränkung des freien Außenhandels nicht auch Vorteile haben kann. Das von Ricardo gewählte Beispiel, nämlich der Handel zwischen England und Portugal mit den Gütern Tuch und Wein, zeigt das: Wenn Portugal sowohl Tuch als auch Wein mit geringeren Kosten produzieren kann, aber der Vorteil bei Wein größer ist als bei Tuch, ist es für dieses Land günstiger, Tuch in England zu kaufen, als es selbst zu produzieren. Das Problem: England entwickelte für die Produktion von Textilien die Produktion von Maschinen und wurde damit zur ersten Industrienation. In Portugal bot die Produktion von Wein keinen Anstoß für eine Maschinenproduktion. Es gab kein produktivitätssteigerndes Lernen.

Die Antwort kam 1841 aus Deutschland: Freihandel ist gut, wenn die Staaten ungefähr gleich entwickelt sind. Ist das aber nicht der Fall, wie etwa bei den deutschen Staaten um diese Zeit, dann ermöglicht ein Schutzzoll ein Aufholen in der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Dieses Argument wurde in jüngerer Zeit zugunsten einer Beschränkung des Freihandels weiterentwickelt, wobei manche der ostasiatischen Ökonomien als Beispiele für den Erfolg dieser Politik angeführt werden.

Joseph E. Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft, und Bruce C. Greenwald, Professor für Finanzinvestitionen, erweitern das Argument gegen den freien Außenhandel in ihrem Buch. Auch für die reichsten Wirtschaften können eine Beschränkung des Außenhandels und eine Lenkung der Industriestruktur günstig sein, wenn sie daraus lernen, besser zu produzieren. Es geht nicht nur um ein Aufholen, sondern darum, fortgesetzt eine Erhöhung der Produktivität zu erreichen. Produktiv zu arbeiten, lerntman am besten bei der Arbeit selbst.

Zwei Argumente sprechen dafür. Das empirische: Auch in den USA gibt es erhebliche Bereiche mangelnder Produktivität. Und es kann gezeigt werden, dass der soziale Nutzen von Innovationen größer ist als der private. Der Terminus technicus der Ökonomie: Es gibt ein Marktversagen. Wenn nämlich in einem Unternehmen durch Lernen höhere Produktivität erzielt wird, können andere diese Neuerungen weiterentwickeln. Da aber Unternehmen nur Aktivitäten für ihren eigenen Gewinn durchführen, wird systematisch zu wenig für die Entwicklung der Produktivität unternommen. Ein Standardargument der Ökonomie für staatliche Eingriffe.

Hätten die Autoren dieses Argument präzise, aber verständlich dargelegt, hätte es die Diskussion über den Freihandel befruchtet. Zu fürchten ist jedoch, dass alle bestätigt werden, die ohnehin von der Schlechtigkeit der Marktwirtschaft überzeugt sind. Die anderen können das Buch leicht abtun. Es wird darin ein wenig systematischer Überblick über viele Formen des Marktversagens gegeben. Stiglitz hat auf diesem Gebiet viel gearbeitet und den Nobelpreis dafür verdient.

Wirtschaftswissenschaftlern bietet die Darstellung aber nichts Neues; für andere Leser ist sie unverständlich, weil die Autoren die Kenntnis der Terminologie der Ökonomie voraussetzen. Alles, was Laien erfahren, ist, dass es einen Nobelpreisträger gibt, der Argumente gegen unregulierte Marktwirtschaften anführt. Das mag für Zustimmung oder Ablehnung des Buches genügen, nicht aber für eine breite öffentliche Diskussion.

Es gibt schließlich auch Nobelpreisträger, die der von Stiglitz und Greenwald vertretenen Position für eine die industrielle Entwicklung lenkende Politik widersprechen. Meist behaupten sie nicht, dass die unregulierte Marktwirtschaft so wunderbar sei. Es wird vielmehr bezweifelt, dass der Staat es besser machen kann. Es ist auch wirklich paradox: Die Kurzfristigkeit der Politik und der Einfluss der Lobbys werden beklagt. Dennochwird gefordert, der Staat möge die Richtung der industriellen Entwicklung beeinflussen. Man könnte auf Indien hinweisen, das lange Zeit die eigene Industrie durch Beschränkungen von Importen begünstigte. Es gab dabei sicher auch positive Entwicklungen. Aber einheimische Monopole mit gutem Zugang zur Politik haben von dieser Politik besonders profitiert, ohne dass die technologische Entwicklung gefördert wurde.

Ein weiteres Problem: Große Staaten könnten einseitig eine solche Politik verfolgen. Sie müssten Retorsionsmaßnahmen anderer Staaten nicht fürchten. Ihr eigener Markt ist sehr groß. Für kleine Wirtschaften ist die Lage anders. Würde Kanada eine seiner Industrien gegen US-amerikanische Konkurrenz schützen, wäre es ein Leichtes für die USA, genau dieser Industrie zu schaden. Eine Politik, wie in dem Buch gefordert, setzt internationale Handelsabkommen voraus. Dabei ist es freilich üblich, dass die großen Staaten sich durchsetzen.

Es geht ums Lernen. Bei der Lektüre dieses Buches lernt man vor allem, dass auch sehr gute Professoren der Ökonomie nicht neben vielen anderen Aktivitäten jedes Jahr ein Buch mit mehr als 500 Seiten schreiben können. Dieses Werk kann als Verlust für die Ökonomie gesehen werden. Joseph Stiglitz ist immer noch ein hervorragender Theoretiker. In seinen letzten wissenschaftlichen Arbeiten beginnt er, die von Thomas Piketty beschriebene Entwicklung der Einkommensverteilung mit den Methoden der Wirtschaftstheorie zu analysieren. Das kann kaum jemand so gut wie er. Es ist Verschwendung einer produktiven Ressource, wenn er Bücherwie das vorliegende schreibt.

Das sollen andere, die geringere wissenschaftliche Fähigkeiten haben, tun – vielleicht unter seiner Anleitung. Das wäre ein Gewinn für die öffentliche Diskussion von Wirtschaftspolitik. Arbeitsteilung hat Vorteile. ■

Joseph E. Stiglitz, Bruce C. Greenwald

Die innovative Gesellschaft

Wie Fortschritt gelingt und warum grenzenloser Freihandel die Wirtschaft bremst. Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer. 608 S., brosch., € 28,80 (Econ Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2016)

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