"Guilty Pleasure"

Nachdem letztes Jahr alle Welt der "Prokrastination" gehuldigt hat, statt die Dinge einfach altmodisch aufzuschieben, hat neuerdings jeder ein "Guilty Pleasure".

Mir geht das Wort ja schon länger auf die Nerven. Eigentlich, seit es mir das erste Mal untergekommen ist, in einem harmlosen E-Mail-Verkehr: Er widme sich jetzt der Prokrastination, schrieb ein Freund. Seltsam, dachte ich. Und weil ich kein Latein kann, obwohl ich es nach sechs Jahren heftigen Unterrichts können sollte, musste ich nachschlagen: Erledigungsblockade, erklärte mir Google. Und dass man als Prokrastinierender Dinge aufschiebt, die einem unangenehm sind.

Gut, das ist ja nicht neu. Das gab es schon immer. Früher hat man halt die Kinder mit Sprüchen wie „Morgen, morgen nur nicht heute“ herumgescheucht oder man hat „besorgen“ auf „morgen“ gereimt. Heute bevorzugt man ein Fremdwort und ist irgendwie stolz darauf.

Wie konnte es dazu kommen?

Ich vermute, die Prokrastination ist zum Statussymbol geworden. Wer sagt, er prokrastiniere, der will seiner Umwelt zeigen, dass er es sich leisten kann, Dinge nicht oder nicht rechtzeitig oder am allerletzten Drücker zu erledigen, im Gegensatz zu all den braven Menschen, die schon eine Woche vor der Prüfung anfangen zu lernen und den Artikel nicht erst kurz vor Blattschluss abgeben. Prokrastinierer tun gern so, als unterwanderten sie die Leistungsgesellschaft, als verweigerten sie sich einem System, das Effizienz über alles stellt. Aber sie täuschen sich: Nichts ist effizienter, als eine aufwendige Arbeit in den letzten zwei Tagen vor Abgabeschluss niederzufetzen.


Die Freizeit will genützt werden. Ganz ähnlich funktioniert ein anderes Vokabel, das gerade sehr en vogue ist: „Guilty Pleasure“, also in etwa schuldbehaftetes Vergnügen. Früher gab es Arbeit und Freizeit, wobei der arbeitende Mensch nützlich war, der ruhende unnütz und damit tendenziell gefährdet, allerlei Unfug anzustellen und sich mit dem Teufel zu verbünden. Heute wird auch noch die Freizeit in sinnvoll und sinnlos verbrachte eingeteilt: Wer nicht schuldig werden will, geht ins Theater, joggt eine Runde, besucht die Godard-Retrospektive im Filmmuseum oder schaut wenigstens „House of Cards“, und zwar in der Originalfassung ohne Untertitel, damit er sein Englisch poliert. Schuldbeladen sind dagegen Handyspiele oder Serien wie „Grey's Anatomy“. Direkt in die Hölle führt etwa das „Dschungelcamp“. Wer so etwas anderen gegenüber als sein „Guilty Pleasure“ bezeichnet, sagt damit: Ich vertrödle hier zwar meine Zeit, aber im Gegensatz zu den anderen Deppen amüsiere ich mich bewusst unter meinem Niveau. Das soll ultraentspannt wirken, dabei trägt es den Leistungsgedanken sogar in die Freizeit.

Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich spiele jetzt Candy Crush. Ich bin auf Level 1542.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2016)

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