Kein Interesse an der eigenen Biografie

Lars Gustafssons Roman „Doktor Wassers Rezept“: Der kürzlich verstorbene Autor schildert darin einen Identitätswechsel.

Lars Gustafsson hat in der europäischen Literatur einen hervorragenden Ruf. Er war einer jener Autoren, bei denen sich im Herbst niemand gewundert hätte, wenn es aus Stockholm geheißen hätte: der, kein anderer. Am 3. April ist er nun verstorben Über Jahrzehnte hinweg hat er fleißig seinen Ruf erneuert durch beglückende Gedichtbücher und immer wieder Erzählungen und Romane, die zeigten, dass er gelernt hat, seine Geschichten mit angenehmer Leichtigkeit und den Gesten der Erkenntnis menschlichen Verhaltens auszustatten. Und Verena Reichel ist es über Jahrzehnte gelungen, das in ein geistreiches und entspanntes Deutsch zu übertragen.

Es kann nicht überraschen, dass das manchmal besser und manchmal nicht so gut gelingt. Dieser kleine Roman aber ist die Stunden, die man für seine Lektüre aufwenden muss, nicht wirklich wert. Es ist die Erzählung eines Identitätswechsels, beschäftigt sich also mit einem ebenso dramatischen wie hochinteressanten Thema, dem der Autor aber nicht viel abzugewinnen vermag.

Kent Andersson, ein junger Mann ohne besondere Vorhaben, der sein Geld in einer Reifenfirma oder als Fensterputzer verdient, entdeckt eines Tages zufällig hinter einer Straßenböschung die halb verweste Leiche eines Mopedfahrers, die ihn allerdings nicht abschreckt, sie genauer zu untersuchen. So findet er eine Menge Dokumente und Ausweise des verunglückten Mannes. Er nimmt sie an sich – und bald darauf auch dessen Identität. Es handelt sich um einen deutschen Mediziner aus der DDR namens Doktor Kurth Wasser (genau, mit th), der offenbar in Schweden auf Arbeitssuche unterwegs gewesen ist, und als der beginnt der junge Schwede nun eine nie ernsthaft behinderte Karriere im schwedischen Gesundheitswesen. Dazu braucht es nicht viel mehr als ein gewisses Maß an Unverfrorenheit, etwas deutschen Akzent und fehlendes Interesse an der eigenen Biografie.

Leider teilt dieses mangelnde Interesse der Autor mit seinem Helden: Er erzählt uns zwar, wie es trotz einiger Stolpersteine weiter nach oben geht, wobei ihn hauptsächlich die Damen interessieren, die seine sexuellen Bedürfnisse und sein Ego stabilisieren, aber dieses Interesse gilt nicht wirklich der Erkundung von Identitätsproblemen auf psychischer oder philosophischer Ebene, nichts davon wird problematisiert, der kleine Roman flutscht so dahin und ist nicht mehr als nett. Da uns das Ganze als nachgelassene Ich-Erzählung des Helden geboten wird, ließe sich auch denken, dass sich da jemand etwas vormacht, aber dem ist nicht so. „Es gibt viel mehr in der Beziehung zwischen Menschen, als die psychologische Wissenschaft, dieses eigentümlich eindimensionale System, erfasst“, heißt es einmal. Womit der literarischen Annäherung an unser Seelenleben aller Respekt erwiesen wäre. Bedauerlich nur, wenn es dann dabei bleibt.

Am Leser liegt es jedenfalls nicht. Gegen Ende schiebt Gustafsson eine Floskel ein – „glaubt mir oder nicht“ –, aber hat nicht jede Leserin, jeder Leser, der einen Roman in die Hand nimmt, sowieso beschlossen, zunächst einmal alles zu glauben, was der Autor ihm aufbindet, egal ob es ein Bär ist oder der kleine Hund, der das letzte lebende Wesen ist, das dem falschen alten Doktor Wasser Gesellschaft leistet?

Es gibt Romane, die sich sanft oder unsanft (Proust, Flaubert) an der uns vertrauten Realität entlang bewegen und den dahinterliegenden Geheimnissen nachspüren. Und es gibt (zunehmend mehr) die Romane, die sozusagen brutal in die Welt hineinfantasieren: Die aber brauchen einen anderen imaginativen Aufwand, wenn wir auf unserem Fernsehsofa nicht einschlafen sollen. „Man konnte nicht in einen Raum hineinsehen, den man nie betreten hatte. Oder konnte man das?“ Wer nach Kafka und Stephen King (oder nach „Moby Dick“ und der „Odyssee“) noch solche Fragen stellt, wird kaum eine überzeugende Antwort finden. ■

Lars Gustafsson

Doktor Wassers Rezept

Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. 144 S., geb., € 18,40 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2016)

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