Herr der Schrecken

In die Tausend geht die Zahl der Aquarelle und Grafiken, Ölbilder und Collagen, auf denen Bernhard Hollemann im Laufe von vier Jahrzehnten sein „zweites Ich“ festgehalten hat: Mantis religiosa, die Gottesanbeterin. Eine heilige Kannibalin und ihr Maler.

Hunden wird mitunter nachgesagt, sie nähmen im Alter gewisse Eigenschaften ihres Besitzers an. Besonders, wenn es eine Bindung von extrem langer Dauer sei, glichen sie sich in vielem ihrem Herrl oder Frauerl an – bis hin zu bestimmten Bewegungsabläufen, bis hin zum Gesichtsausdruck. Ebenso kenne ich Fälle, wo dieser Prozess in umgekehrter Richtung verläuft: Hundehalter, die sich mit zunehmendem Alter manche Züge ihres Begleiters aneignen. „Schau dir die zwei an“, munkeln dann die Leute, „der eine ist so grantig wie der andere.“ Oder auch: „Die humpeln sogar im Gleichschritt.“ Die einen finden das komisch,andere sind gerührt.

Es wäre eine Untersuchung wert, ob es ähnliche Angleichungen auch im Umgang mit anderen Haustieren gibt oder nur bei Hunden. Haben Katzenhalter erhöhten Kuschelbedarf, neigen Ornithologen zum Singen, tragen Reiter Mähnen? Und wie ist das – um auch ein Beispiel aus der Insektenwelt herauszugreifen – mit dem österreichischen Maler Bernhard Hollemann, der von sich sagt: „Ich bin eine Mantis“?

Die Mantis, so viel wissen wir noch aus dem Biologieunterricht, ist jene Spezies von Fangschrecken, die den Beinamen „religiosa“ führt und auf Deutsch „Gottesanbeterin“ heißt. Sie stammt ursprünglich aus Afrika und ist heute vorwiegend im Mittelmeerraum verbreitet. Doch wer Glück hat, findet sie vereinzelt auch in unseren Wäldern. Zu den Besonderheiten der Mantis zählt, dass die Weibchen mit ihren sieben Zentimetern Länge deutlich größer sind als die Männchen, dass ihre vorderen Gliedmaßen zu Fangbeinen umgebildet sind, dass sie fürs Erspähen ihrer Beute mit extrem großen und weit auseinanderliegenden Augen ausgestattet sind, dass ihr dreieckiger Kopf außerordentlich beweglich ist und dass die Weibchen bei großem Hunger die Männchen auffressen – selbst wenn noch die Paarung im Gange ist.

Die Gottesanbeterin, deren „frommer“ Name sich von der gebetsähnlichen Haltung ableitet, die sie beim Lauern auf Beute einzunehmen pflegt, zählt mithin zu den grausamsten Tieren, die die Natur kennt, ja man könnte sie geradewegs den Kannibalen zurechnen. Und solch eine Bestie erwählt unser Bernhard Hollemann zu seinem Lieblingsmodell, zu seinem Leittier, zu seinem Idol, ja identifiziert sich gar mit ihr?

In die Tausend geht die Zahl der Aquarelle und Grafiken, Ölbilder und Collagen, auf denen Hollemann im Laufe von vier Jahrzehnten sein „zweites Ich“ festgehalten hat. Ja, es gibt kaum ein Bild von seiner Hand, auf dem sich nicht – und sei es noch so versteckt, noch so verfremdet – eine Mantis durchs Bildgestrüpp hantelte, übers Zeichenpapier kröche, schliche, flöge.

Insekt, holzgeschnitzt, gläsern

Die Gottesanbeterin ist für ihren „Biografen“ Bernhard Hollemann – so wie für Picasso der Stier, für Franz Marc das Pferd oder für Paul Flora der Rabe – zum Markenzeichen geworden, und selbst wenn er von der Staffelei an den Schreibtisch wechselt, ist der filigrane zartgrüne Geselle mit von der Partie: Der Stempel, den sich unser Künstler nach einer seiner Zeichnungen hat anfertigen lassen, um ihn seinem Briefpapier aufzudrücken, zeigt – erraten! – eine stilisierte Mantis, und auch die Vitrine, die in der Diele des Hollemann-Hauses in der Weinviertler Gemeinde Limberg einen beherrschenden Platz einnimmt, geht über von Nachbildungen „seines“ Insekts, die ihm Verehrer von ihren Fernreisen mitgebracht haben: eine holzgeschnitzte aus Mexiko, eine gläserne aus Murano, eine papierene aus Japan, eine stählerne aus den USA.

Was unsere Eingangsfrage nach der „Angleichung“ von Mensch und Tier betrifft, so kann ich etwaige Bedenken zerstreuen: Der inzwischen 80-jährige Hollemann stakst nicht wie ein beutegieriges Insekt durch die Gegend, trägt auf seinen breiten Schultern keinen dreieckigen, sondern einen nach wie vor schönen, runden Apostelkopf, und auch seiner lieben Frau, die seit 45 Jahren das Ihre zu seiner Arbeit beiträgt, ist kaum zuzutrauen, dass sie ihren Bernhard mit Fangarmen in die Zange nimmt, in seine einzelnen Körperteile zerlegt und zum Gabelfrühstück verschlingt.

Der Urgrund für Bernhard Hollemanns künstlerische Fixierung auf die Mantis ist selbstverständlich philosophischer Natur, tief in seinem Interesse für alles Prähistorische verankert, das von Kind an seinen Kosmos prägt. Beordert nicht schon Lehrer Tenge in dem niedersächischen Städtchen Harsum, wo Bernhard zur Schule geht, den Zehnjährigen an die Tafel, damit er mit dem Kreidestift und vor den erstaunten Augen der Klassenkameraden Höhlenzeichnungen an die Wand zaubert? Vor allem, wenn der Landesschulrat auf Visite kommt, zählt diese „Nummer“ zum festen Programm. Das Beobachten der Natur, ihrer Lebewesen und Bewegungsabläufe sowie deren zeichnerische Umsetzung ist Schüler Hollemanns Domäne, da kommt er augenblicks in Fahrt.

Später, als er, schon das Abiturzeugnis in der Tasche, den Weg nach Österreich angetreten hat, um an der Wiener Kunstakademie Zeichnen und Malerei zu studieren, wird er sein „Betätigungsfeld“ erweitern und vor allem im Schönbrunner Zoo den idealen Ort finden, um seine Studien voranzutreiben. Da trifft es sich gut, dass sein Professor schon im ersten Semester das Thema Tier in den Mittelpunkt des Unterrichts rückt. Welche Modelle die Studenten für ihre ersten Zeichenversuche wählen, bleibt jedem Einzelnen überlassen: Bernhard entscheidet sich für einen jener Riesen, deren es in Schönbrunn etliche Prachtexemplare gibt: den Bison. Noch zeichnet sich zu dieser Zeit nicht ab, dass er dereinst vom Großformat aufs Kleinstformat umsteigen und das Insekt zu seinem Lebensthema wird heranreifen lassen.

Zur Erreichung seines Lebensziels, sich als freischaffender Künstler zu etablieren, hat ihm sein Mentor an der Akademie ein Zertifikat mit auf den Weg gegeben, das Bernhard Hollemann speziell in puncto Tierdarstellung einen Spitzenplatz innerhalb der bildenden Kunst Europas voraussagt. Es handelt sich bei diesem Professor übrigens um jenen einst mit Kokoschka und Schiele befreundeten Robin Christian Andersen, der in jungen Jahren zusammen mit einem gewissen Adolf Hitler bei der Aufnahmsprüfung durchgefallen ist. Sein Kommentar: „Ach, hätte die Akademie doch damals Hitler aufgenommen! Es wäre der Welt unendlich viel Leid erspart geblieben . . .“

Doch zurück zum Absolventen Bernhard Hollemann: Welche Umstände müssen eintreten, damit er zu seinem Kernthema findet, zur obsessiven Auseinandersetzung mit der Gottesanbeterin? Der erste Anstoß dazu erfolgt zu jener Zeit, da unser Jungkünstler, nunmehr in Baden bei Wien ansässig, zu seinen ersten Wanderungen durchs Helenental aufbricht und bei einer dieser Touren mitten im Gestrüpp auf eines jener geheimnisvollen Wesen stößt, deren Beobachtungsgabe, Fangtechnik und Nahrungsaufnahme ihn fasziniert. Dies auch im Bild festzuhalten kommt ihm allerdings erst Jahre später in den Sinn: Noch durchläuft Hollemann seine satirische Phase, noch steht der Mensch mit all seinen grotesken Verhaltensweisen im Mittelpunkt seines Interesses. „Homo animalis“ oder „Herr Neureich fährt am Sonntag aus“ heißen die Blätter aus jenen Jahren.

Erst 1965 – Hollemann ist inzwischen 30 –taucht die erste Mantis auf einem seiner Bilder auf, und als es deren in der Folge mehr und mehr werden, ja der Zeitpunkt näherrückt, wo es kaum noch einen Hollemann geben wird, durch dessen Figurenwelt nicht – zumindest andeutungsweise – eine Mantis geistert, ist nicht nur ihm klar, dass er von diesem Tier nicht mehr loskommen wird. Prälat Joachim Angerer, kunstsinniger Abt des Stiftes Geras und Begründer der dortigen Malschule (an der sich auch Hollemann in späteren Jahren als Kursleiter einen Namen machen wird), ist es, der es seinem Schützling bei einer der nun in rascher Folge veranstalteten Ausstellungen auf den Kopf zusagen wird: „Du bist die Mantis!“ Einem universell gebildeten Gottesmann wie Angerer kommt dabei natürlich zustatten, dass ihm auch die kulturgeschichtliche Bedeutung der Mantis religiosa, also ihre Verehrung als Seherin und Schamanin, vertraut ist.

Klar, dass bei einer so intensiven Beziehung zwischen Mensch und Tier, wie sie Hollemann fortan in seinem Werk auslebt, eines Tages der Wunsch aufkommen muss, der Mantis nicht nur in der freien Natur zu begegnen (was ihm in einer der Ausstellungsexpertisen das Prädikat „Insektenvermesser“ eintragen wird), sondern sie auch in seinem Atelier – und das heißt: leibhaftig – um sich zu haben.

Als die Mantis ins Atelier flog

Der Wunsch wird ihm erfüllt: Es sind zwar keine Gottesanbeterinnen (für deren Haltung und Züchtung Lebendfutter vonnöten wäre), es ist ein halbes Dutzend der mit ihnen verwandten Gespensterschrecken, die Hollemann aus den Beständen des Schönbrunner Tiergartens zugeführt werden. Auch für mich, der von alledem wenig versteht, ist es ein Erlebnis, den seltsamen Insekten bei ihrem Treiben im mit Brombeergesträuch ausstaffierten Terrarium zuschauen zu dürfen – ganz zu schweigen von Hollemanns Bericht über jenes Wunder, das es für ihn gewesen sein muss, als am Abend des 26. Oktober 2013 durch das offene Fenster eine Mantis in sein Atelier geflogen kam, sich an einem der Möbelstücke niederließ, trotz Zurückweisung des für sie als Futter eingefangenen Nachtfalters an ihrem Platz verblieb und erst nach einigen Tagen verendete. Die bei dieser Gelegenheit angefertigte (und auch um ein Dokumentarfoto angereicherte) Zeichnung ging in zahlreichen Kopien in die Welt hinaus: Auch Bernhard Hollemanns Freunde, Gesinnungsgenossen und Sammler sollten an dem denkwürdigen Ereignis teilhaben können.

Mit der Zahl der Hollemann-Ausstellungen im In- und Ausland wuchs auch die Zahl der Publikationen über ihn und sein Werk: kein Katalog, in dem nicht die Mantis präsent wäre. Dass unser Künstler sogar in die wissenschaftliche Literatur Eingang fand, ist der Baseler Galerie Hilt zu verdanken, die den Verlag der „Neuen Brehm-Bücherei“ darauf aufmerksam machte, dass in deren 500-seitigem Standardwerk „Die Gottesanbeterin“ auch eine künstlerische Darstellung dieses Tieres nicht fehlen sollte. Es wurde also europaweit recherchiert – mit dem Resultat, dass das Internet in diesem Zusammenhang als einzigen den Namen Hollemann ausspuckte. Sein einschlägiges Aquarell „Schaurigschöne Sommerreise“ ist somit auch in der zoologischen Fachliteratur verewigt. ■


Aus dem Band „Geliebtes Geschöpf. Tiere, die Geschichte machten“, der Anfang Juni im Amalthea Verlag herauskommt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2016)

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