Ich fuhr nach Belfast-West

„Expedition Europa“: an der Mauer des Friedens – Nachricht aus Nordirland.

Erstkommunionmädchen in weißen Kleidern stehen zappelnd auf der Anhöhe, der Rasen der Kathedrale fällt terrassenförmig zum Städtchen Armagh ab. Eine zwingende Idee, das saftige Grün schreit nach dem Prinzessinnen-Weiß. Einige Mädchen rollen quietschend runter.

Der nordirische Bürgerkrieg – 3500 Tote von 1969 bis 1998 – ging zwischen den Nachfahren englisch-schottischer Kolonisten und irischen Ureinwohnern, war aber irgendwo auch ein Glaubenskrieg zwischen Protestanten und Katholiken. Die Kathedrale von Armagh war halbwegs voll, aber da lockten die Attraktionen Chorgesang, Erstkommunion und Fronleichnamsprozession an den Sitz des katholischen Primas von ganz Irland. Viele kamen von fern, viele polnische Gastarbeiter auch. Ansonsten sah ich im frömmsten Teilstaat des Vereinigten Königreichs einen schier unglaublichen Niedergang des Glaubens.

In der zunehmend katholisch dominierten Stadt Derry machte man einen Fitnessklub aus einem Gotteshaus. Das Kirchenportal verkündete in goldenen Lettern: „Million Dollar Fitness“. In der protestantischen Küstenstadt Bangor manifestiert sich der dutzendfach aufgespaltene Pietismus noch als öffentlich aufgemalte Ermunterung. Auf der Jacht-Promenade las ich: „Christus starb für die Gottlosen.“ Große Villen am Hang hatten Meerblick. Sie waren schnörkellos, durch die häufig offenstehenden Einfahrten blickte ich in die ausgeräumte Welt calvinistischer Großbürger mit unauffälligen Kleinwagen hinein.

Wo die „Troubles“ 1969 losgingen

Ich fuhr nach Belfast-West. Hier gingen 1969 die „Troubles“ los, als ein protestantischer Mob aus der „Shankill“ eine Straße nebenan in der katholischen „Falls“ abfackelte. Dass „Unionisten“ und „Nationalisten“ auch 18 Jahre nach Friedensschlussund Wirtschaftsaufschwung segregiert leben, war mir bekannt; als ich in der Falls dann aber plötzlich anstand, war ich doch geplättet. Diese „Peace Wall“ war riesig: ein paar Meter Betonwand, darauf ein paar Meter grünes Metall, darauf ein paar weitere Meter Zaun. Die Wand zog sich sicher einen halben Kilometer hin, im Stadtplan der Tourismuswerbung fehlte die Barriere. Neue bessere Reihenhäuser, an der Mauer wohnt es sich verkehrsberuhigt. Zwei Buben im Erstkommunionsalter spielten auf der Straße Fußball, ein Dribbling. Nur mit ihrer Hilfe fand ich denUmweg in die Shankill rüber.

Sowohl die Falls als auch die Shankill: ein bewohnter Gedächtnispark. An jeder freien Hauswand heroische Wandmalereien, Totentafeln an katholischen Wohnhäusern, Denkmäler für die fünf in die Luft geblasenen Lokale bei den Protestanten. Ich ging am Sonntag in vier Gottesdienste. Die katholischen Kirchen waren zu 80 Prozent leer, Seniorenanteil 80 Prozent, der Gesang in der „Saint John“ wurde gar vom Band eingespielt. Die anglikanische Lukaskirche in der Shankill stand zum Verkauf: „Kein Denkmalschutz, vielseitig nutzbar,McCleary 90207111“. Im turmlosen Lagerhaus gegenüber, der „Free Presbyterian Church”, ließ mich der freundliche Pastor zuhören. Er predigte zwei Mal mit geschlossenen Augen, die wenigen Gläubigen schlossen ebenfalls die Augen.

Ich beschloss, Gottesmänner auf beiden Seiten aufzusuchen. Mit wem ließe sich die nordirische Stimmung vor dem Brexit-Referendum besser ausloten alsmit den Pfarrern im Schatten der Mauer? Als ich auf der protestantischen Seite der „Peace Wall“ zurückwanderte, hörte ich von drüben Kinderstimmen. Die nordirische Nationalmannschaft ist zum ersten Mal zu einer EM qualifiziert, und die beiden Buben dribbelten immer noch. Die Friedensmauer ist keine Lärmschutzwand. Man braucht dem Feind bloß nicht ins Gesicht zu sehen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2016)

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