Die verdrängte Scham einer Flüchtlingsfrau

Hermetisch: F. C. Delius verpackt drei Liebesgeschichten in einer. Die Hauptperson begibt sich auf die Suche nach verlorenen Ahnen.

Bescheidenheit. Pflicht. Selbstdisziplin. Demut bis an den Rand der Unterwerfung. Familie. Abstammung.Tradition. Das ist nicht etwa die Lage einer muslimischen Kopftuchträgerin oder einer chassidischen Mutter. In „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ verfolgt F. C. Delius in einem rauschhaft konstruierten Bewusstseinsstrom den Entschluss einer pommerischen Adeligen, eine Liebesaffäre zu rekonstruieren, die Teil ihrer Familiengeschichte ist. Mit dem daraus resultierenden Roman soll sich ihr Jugendtraum – einst aufgeschoben durch die eigene Liebesgeschichte, die Ehe, das Schicksal – endlich erfüllen.

Die zur napoleonischen Zeit sich ereignende Liaison allerdings ist nicht bescheiden. Sie ist pikant. Die Spur führt von Berlin nach Den Haag, mitten in den Stammbaum des niederländischen Königshauses. Ein Oranier zeugte mit einer Berliner Tänzerin einst eine Tochter, die heimlich in den Adelsstand erhoben, ausgestattet und mit einem standesgemäßen Ehemann verheiratet wurde. Auf der Suche nach der verlorenen Ahnin begegnet Marie allerdings weit Pikanterem: ihren unterdrückten Gefühlen, ihrer eigenen Liebesgeschichte und der ihrer Eltern. Pikant auch, weil sie weder mit den Reaktionen der Holländer auf sie als Deutsche noch mit ihrer eigenen Reaktion auf die Holländer gerechnet hat. Im Gegenüber entfalten sich Unsicherheit, verdrängte Scham und das Standesbewusstsein einer adeligen Flüchtlingsfrau, das sich zu Ignoranz hat plattdrücken lassen. Sie findet sich außerhalb der Familie in der Gegenwart nur schwer zurecht, taumelt zurück vor allem Unbekannten, dem sie sofort den Ruch des Ungehörigen andichtet.

Die drei Liebesgeschichten mit ihren gesellschaftspolitischen Implikationen sind eher Anlass der inneren wie äußeren Reise Maries. Das sich aus dem Untergrund lösende Hauptthema des Romans sind die sich reibenden Gepflogenheiten unterschiedlicher Orte und Zeiten. Die Reiseeindrücke überfallen Marie und lassen sie gelähmt zurück. Alles, was außerhalb ihres Radius liegt, ist verdächtig: die holländische Pensionsbesitzerin, die Archivarin, der Konsumtempel Bijenkorf und am Ende sogar eine außergewöhnliche Unternehmung ihres Ehemannes, ein Kinogang, allein! Statt die Gegenwart neugierig in sich aufzunehmen, verkrallt Marie sich in die Vergangenheit.

Das Faszinierende des kleinen Romans ist sein Aufbau. Schon im „Bildnis der Mutter als junge Frau“ hat sich F. C. Delius auch technisch als Meister der Darstellung eines rauschhaften Bewusstseinsstroms erwiesen. In der neuen Imagination gelingt es ihm ein zweites Mal auf verblüffende Weise, zum einen die Begrenzung seiner Protagonistin, die auch Engstirnigkeit ist, aufzuführen, zum anderen ihr fast zärtlich beizustehen. Mitunter lässt er sie zweifeln, lässt sie hinauslugen aus dem „geschlossenen System, wo keine Gefahr und keine Irritation droht“. Sie wirkt ein wenig rührend. Aber Delius verrät seine Hauptfigur nie, auch wenn ihre zweifelnden Blicke folgenlos bleiben.

Dem schmalen Roman gelingt es, eine Person in einer uns fernen Zeit in einer uns noch ferneren, geradezu befremdlichen Gestimmtheit durch sich selbst zu porträtieren. In ihrer fast hermetischen Perspektive, die sich sichtlich vor dem anderen, dem Neuen, dem Fremden fürchtet, schimmert eine seltsame Anmut auf. Sie führt den Leser zurück zu etwas fast Vergessenem: einer Form von Hilflosigkeit, Rückständigkeit und Unoffenheit, die aus Selbstbeschränkung und Schamhaftigkeit resultiert. Hier fehlen Erfahrung, Individualität, Selbsterkenntnis. Das alles wurde nicht gelehrt, nicht gelernt. Nicht einmal durch das große eigene Leid.

Fast unvorstellbar, dass es das auch einmal in dem heute so ruchlosen Westen gegeben haben soll. So führt Maries Bewusstseinsstrom, der sie eingebunden in ihrer Konvention verharren lässt, weit über sie hinaus und den Leser zu etwas hin, was Beachtung verdient. ■

Friedrich Christian Delius

Die Liebesgeschichtenerzählerin

Roman. 208 S., geb., € 19,50 (Rowohlt Berlin Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2016)

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