Es war einmal am Börseplatz

Dieser Tage wird Conny Hannes Meyer 85 Jahre alt. Seine „Komödianten“: ein Theater, das Wien prägte – in den 1960er-Jahren und weit darüber hinaus. Eine Erinnerung.

Am 18. Juni feiert der Regisseur, Schriftsteller und Theaterdirektor Conny Hannes Meyer seinen 85. Geburtstag. Die von ihm und der Schauspielerin Ilse Scheer gegründete Theatergruppe „Die Komödianten“ wird von vielen Zeitzeugen nicht nur als einziges politisches Theater der 1960er-Jahre bezeichnet, viele Schauspieler, Musiker und Theaterleiter sammelten hier ihre ersten prägenden künstlerischen Erfahrungen.

Als Sohn eines jüdischen Geschäftsmannes geboren, verbrachte Meyer seine Kindheit in Heimen, absolvierte eine Schriftsetzerlehre und arbeitete dann in der Druckerei des kommunistischen Globus Verlags. In der Berufsschule kam er in Kontakt mit einer Laienspielgruppe und wurde zu einem eifrigen Theaterbesucher, der jedoch bald von dem Gebotenen gelangweilt war. Denn an den Theatern „war Politik auf der Bühne verpönt. Dass diese Einstellung einer Politik der Bewusstlosigkeit bis zur Volksverblödung Vorschub leistete, wollten viele Theatermacher lange Zeit nicht wahrhaben. Zu den wenigen Ausnahmen zählten damals Stella Kadmons ,Theater der Courage‘ und die als ,Kommunistenschmiere‘ beschimpfte ,Scala‘.“ Meyer landete bei einer Theatergruppe der KPÖ und besuchte die Brecht-Matinee, die im Vorfeld der Aufführung von Brechts „Mutter Courage“ – mit Therese Giehse in der Inszenierung von Leopold Lindtberg – am 28. November 1948 im Neuen Theater in der Scala stattfand: „Überraschend gleich der erste Eindruck: eine offene Bühne. Kein Vorhang. Die Schauspieler in ihrer Alltagskleidung. Bei Szenen aus Theaterstücken deuteten sie Kostüme nur an, etwa durch einen Hut oder ein Umhängtuch. Das Ganze wirkte wie eine öffentliche Probe, die mich jedoch mehr beeindruckte als manche bisher gesehenen Aufführungen mit Bühnenbild, Kostüm und Masken.“

Das „folgenschwerste Theatererlebnis“ war Brechts „Die Mutter“, mit Helene Weigel in der Titelrolle ab 31. Oktober 1953 in der Scala gezeigt, eine Aufführung, die „nicht nur meine Auffassung von Theater, sondern auch mein bis zu dieser Zeit noch verworrenes Kunstverständnis, ja sogar mein Denken über gesellschaftliche Zustände völlig veränderte“. Bertolt Brecht sollte Meyer sein gesamtes Theaterleben begleiten.

Die erste praktische Auseinandersetzung erfolgte mit dem Werk Jura Soyfers, dessen Stücke der aus dem englischen Exil zurückgekehrte „Scala“-Schauspieler Otto Tausig 1947 herausgegeben hatte. Meyer mietete mit Erich Pikl und Erich Pateisky ein Kellerlokal im 9. Bezirk, das „Experiment – Kleine Bühne am Liechtenwerd“, in dem am 2. Februar 1956 mit einer Dichterlesung die erste Veranstaltung stattfand. Bei der Uraufführung zweier Einakter von Erich Pateisky und Eugen Banuch in der Regie von Georg Lhotzky am 21. Juni findet sich bereits die vielseitige Bankangestellte Ilse Scheer auf dem Besetzungszettel. Sie übernahm auch eine Hauptrolle in der ersten von Meyer allein verantworteten Inszenierung, der dreiaktigenFassung des „Kolumbus“ von Jura Soyfer am 2. Oktober 1957.

Gedichte „in Bewegung umgesetzt“

Meyer, der ein sozialkritisch und politisch engagiertes Theater anstrebte, verließ schon bald das „Experiment“ und gründete mit Ilse Scheer „Die Komödianten“. Seine Gedichte über die Nazizeit und die Nachkriegsjahre setzte er mit Scheer „in körperliche Bewegung um“ und fand „für jedes Wort, jede Zeile einen Gestus. „Ich entdeckte, dass einige von ihnen durch Betonung ihres Rhythmus bei entsprechender Trommelbegleitung sehr starke Wirkung machten.“ Am 28. August 1958 hatte „Mund von Schlehen bitter“ in der Galerie Ernst Fuchs Premiere, es sollte bis 1962 unter dem Titel „Trommeln und Disteln“ noch oft aufgeführt werden. Herbert Lederer erinnert sich in seinem Standardwerk über die Wiener Kellertheaterszene: „Synkopisch rezitierte lyrische Zeilen erhielten durch die Begleitung dumpfer Schläge auf einer Landsknechtspauke den rhythmischen Takt; stark akzentuierte Pausen im Spielablauf sollten Spannung erzeugen; extrem betonte Körperbewegungen unterstrichen den Wortsinn.“ Gastiert wurde in dieserZeit abwechselnd in Galerien, Ateliers, Klubräumen oder Gewerkschaftssälen.

Am 23. Oktober 1963 eröffneten die „Komödianten am Börseplatz“ ihren 49 und später 100 Sitzplätze umfassenden Kellerraum mit dem „Großen Lalula – Galgenlieder“ von Christian Morgenstern. Schon am 16. Jänner 1964 folgte ein weiterer Hit, „Die schlesische Nachtigall“ – ein Nummernprogramm über die Dichterin Friederike Kempner, deren Gedichte „derartig kitschig geschrieben waren, dass sie als exemplarische Musterbeispiele für Dilettantismus schon wieder gut waren“. In den nächsten zehn Jahren spielten die „Komödianten“ ein reichhaltiges, vielfältiges und eigenständiges Programm, das auffallend unabhängig vom damaligen Mainstream im Theater war. Neben Autoren wie Brecht, Molière, Lorca, Herder kamen jüngere Schriftsteller wie Akutagawa, Arrabal, Fried oder Peter Weiss zu Wort. Interpretiert wurden diese Stücke vor allem von den Schauspielerinnen Ilse Scheer oder Helga lllich und Schauspielern wie Dieter Hofinger, Josef Menrad oder Helmut Wiesner; kurzfristige Auftritte hatten darüber hinaus Erwin Piplits, André Heller, Heribert Sasse oder Heinz Marecek. Rudolf Stodola war musikalischer Leiter, ab 1969 stammten die meisten Bühnenbilder von Gerhard Jax. Mit zunehmender Ausweitung der theatralischen Aktivitäten gab es etwa mit Otto Zonschitz oder Helmut Wiesner auch andere Regisseure, Meyer selbst inszenierte bald an Bühnen wie der der Freien Volksbühne Berlinoder dem Burgtheater.

Herausragende Produktionen in diesem Zeitraum waren etwa „Rashomon oder Der Tod im Gebüsch“ von Ryunosuke Akutagawa, einem auf Pantomime aufbauenden Spiel in Masken, „Blaubart“, eine Dramatisierung dreier Fragmente von Georg Trakl zu einem Spiel mit lebenden Puppen, das Erwin Piplits ausstattete, oder „Circus“, ein „Spiel ohne Worte“ von Conny Hannes Meyer, bei dem Helga Illich debütierte und wofür es erstmals eine Förderung des Kulturamtes der Stadt Wien gegeben hatte. Die „Kaiser- und Küchenlieder“ hatte Interpretin Ilse Scheer noch viele Jahre in ihrem Repertoire und „aus einer Begegnung mit geflüchteten Künstlern aus Ungarn“ entstand die Idee, „einbekanntes Märchen zu politisieren“ – „Die Sache mit Dornröschen“, bei der erstmals Dieter Hofinger zu sehen war, lief wochenlang in einem ausverkauften Haus.

1969 endete schließlich eine langjährige Beziehung. Mit dem „Gesang vom lusitanischen Popanz“ von Peter Weiss am 25. November 1969 verabschiedete sich Ilse Scheer, die in 44 Produktionen mitgewirkt hatte, gemeinsam mit Otto Zonschitz und Rudolf Stodola von den „Komödianten“. Sie gründeten in Berlin die „Theatermanufaktur“, blieben aber mit den „Komödianten“ durch Gastspiele in Verbindung.

Um der mittlerweile erreichten Bedeutung der „Komödianten“ gerecht zu werden und eine Abwanderung des Prinzipals nach Deutschland zu verhindern, unterstützten die Stadt Wien und der Bund das Projekt, den „Französischen Saal“ des Künstlerhauses am Karlsplatz nach Entwürfen von Gerhard Jax in einen multifunktionalen Raum umbauen zu lassen, der für jedes Stück geändert werden konnte. Eigentümer des neuen Saales, der bis zu 250 Zuschauer fasste, war die Stadt Wien über den „Kunstverein“, und die „Komödianten“ wurden verpflichtet, diesen auch den Wiener Festwochen und anderen Theatergruppen zur Verfügung zu stellen. So gastierten hier im März 1983 Ariane Mnouchkine und ihre Truppe mit Klaus Manns „Mephisto“.

Am 28. April 1974 eröffneten „Die Komödianten im Künstlerhaus“ mit „Jerusalem Jerusalem“ von Konrad Wünsche. Das Stück stieß auf keine positiven Reaktionen. Die neue Spielstätte forderte „größere“ Stücke mit mehr Darstellern und mehr Ausstattungsbedarf. Die Komödianten waren nun eine Mittelbühne mit teilweise bis zu 50 Angestellten. Fortgesetzt wurde die Brecht-Pflege mit Stücken wie den „Flüchtlingsgesprächen“, „Die Mutter“ oder „Arturo Ui“. Neben Shakespeare, Marieluise Fleißer oder Horváth kamen auch weiter eigene Stücke von Meyer zur Aufführung. Darunter finden sich „Des Kaisers treue Jakobiner“, eine historische Montage über das verdrängte Schicksal der österreichischen Demokraten um 1790, „Angelo Soliman oder die schwarze Bekanntschaft“, ein Volksstück gegen den Rassismus, oder „Karl ist krank – Szenen aus der Ersten Republik“ über den 1925 ermordeten Publizisten Hugo Bettauer.

1979 brach ein Konflikt aus, der sich bereits 1974 abgezeichnet hatte, als die Wahl für ein dreiköpfiges Führungskollektiv mit Mitspracherecht bei Spielplangestaltung, Finanzen und Personalpolitik am Vetorecht Meyers gescheitert war. Auch in einem im Sommer 1979 auf Drängen des Ensembles eingerichteten Gremium hatten die Schauspielvertreter nur beratende Funktion. Als Meyer Ende Dezember dem Ensemble mitteilte, sich ab der folgenden Spielzeit von elf der 16 Schauspieler trennen zu wollen, kündigten auch Helga Illich und Dieter Hofinger und wechselten mit Ottwald John und Helmut Wiesner zur neu gegründeten Theater Gruppe 80. Neu zum Ensemble stießen in der Folge Schauspieler wie Jean-Pierre Cornu, Michael Reiter, Hannelore Rohrer oder Helmut Wiesinger.

Kontakt zum Publikum verloren

Angesichts weiterschwelender Konflikte schrieb im Programmheft zu Shakespeares „Der Sturm“ vom 25. September 1984 Regisseur Gerhard Jax erstaunlich offen: „Es war einmal eine Schauspieltruppe, die hatte den Kontakt zu ihrem Publikum verloren. Nicht plötzlich, nur Schritt für Schritt. Die spielte infolgedessen jeden Abend nur für sich selber. Das Stammensemble dezimierte sich in der Folge um alle jene, die eine letzte Chance an anderen Theatern suchten. Das Repertoire für die wenigen Verbliebenen wurde immer kleiner, neue Ausstattungen wurden aus Kostengründen vermieden. Der leere Zuschauerraum wurde zum täglichen Gefängnis für die Beteiligten, der Konkurrenzdruck unter den Eingeschlossenen steigerte sich von Tag zu Tag. Durch das Fehlen jeder Kommunikation mit dem Außen, jeder Auseinandersetzung mit Kritik, positiven wie negativen Reaktionen des Publikums, ging immer mehr der Sinn für die Realität einer Welt, die rund um das Theaterpalais brandete, verloren . . .“

Die „Komödianten“, die als freie Gruppe ohne öffentliche Gelder begonnen und sich im Keller am Börseplatz mit wenigen Mitteln ihren Ruf erarbeitet hatten, verfügten jetzt zwar über Subventionen. Die gestiegene Zahl an Gehältern forderte aber ihren Tribut: Die Bühne befand sich wirtschaftlich permanent am Rande des Konkurses, der einige Jahre hindurch nur mit Zusatzförderungen verhindert werden konnte.

Während der Proben zu Brechts „Mann ist Mann“ erfuhr die Belegschaft schließlich in der Nacht auf den 1. Oktober 1985, dass die Bühne wegen des hohen Schuldenstandes auf Betreiben der Stadt Wien geschlossen werden muss. Damit endete die Geschichte einer Theatergruppe abrupt, deren Spielplan – antifaschistisch, antikapitalistisch, antiklerikal – aus der Zeit herausgefallen war und die schließlich an ihrem unbewältigten Wachstum zugrunde ging. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2016)

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