Ein Nordire führt Irland an

Martin O'Neill: impulsiv, begeistert – und mit Irland auch erfolgreich.
Martin O'Neill: impulsiv, begeistert – und mit Irland auch erfolgreich.(c) REUTERS (Pascal Rossignol)
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Frankreich muss sich im Achtelfinale gegen Irland behaupten. Die “Boys in Green„ wollen aber eine Rechnung begleichen – für Thierry Henrys Handspiel im WM-Play-off 2009.

Von der „Liebesaffäre, die wir alle sehen wollten“, schrieb der „Irish Examiner“ nach dem höchst emotionalen Achtelfinal-Einzug der Iren. Sekunden nach dem 1:0-Sieg gegen Italien stürmten Chefcoach Martin O'Neill und sein Assistenztrainer Roy Keane, der vielleicht härteste der härtesten ehemaligen Fußballer, aufeinander zu. Sie fielen sich um den Hals: hier der stille und bedächtige O'Neill, dort der laute, der immer aufbrausende, in seiner Heimat vergötterte Keane.

Seinen Job als Fußballteamchef Irlands verrichtet O'Neill aber weiterhin unaufgeregt und mit leiser Stimme – vielleicht auch, weil er Nordire ist. Der Nordirland-Konflikt trennte beide Nationen von 1969 bis 1998. Es war ein erbitterter Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten, erschwert durch Arbeitslosigkeit, Identitätskrisen und Machtkämpfen. Englisch- und schottischstämmige Protestanten da, irisch-nationalistische Katholiken dort, radikale Anhänger der Union mittendrin, Waffenruhen folgten neuen Anschlägen. IRA, Sinn Féin – „Bloody Sunday“ (1972), es dauerte Jahrzehnte, bis das Land 2005 seinen Frieden offiziell finden sollte. Anschläge gibt es weiterhin, politische Krisen sowieso.

O'Neill, 64, hat all das miterlebt. Und seine Verpflichtung in Irland zeigt auch, dass Annäherung auf ganz simple Weise funktioniert.


“Keane, rasier' dich!„ Als Spieler gehörte er zum legendären Team von Nottingham Forest Ende der 1970er-Jahre, die Nordiren führte er 1982 bei der WM in Spanien als Kapitän an. Seine Trainerkarriere führte ihn zu Leicester City und Celtic Glasgow. Doch obwohl er immer wieder für Topjobs gehandelt wurde, landete er nur bei Aston Villa und Sunderland. Mit der Berufung zum Nachfolger von Giovanni Trapattoni im November 2013 scheint O'Neill aber endgültig seine Berufung gefunden zu haben – im Duett mit Keane ist die EM vor dem Achtelfinale gegen Frankreich bereits ein enormer Erfolg. Was sagte aber der Mann, der auf den ersten Blick wie ein ruhiger, pensionierter Briefträger wirkt, mit dem feinsinnigen Humor zur Umarmung Keanes? „Ich habe ihm geraten, er soll sich dringend rasieren . . .“

O'Neill verfolgt mit Irland heute in Lyon noch eine ganz andere Mission. Jetzt soll Fußball-Frankreich büßen. Auf der Grünen Insel wird nichts vergessen, schon gar nicht großes Unheil. Es geschah am 18. November 2009, im Stade de France, in der WM-Qualifikation für Südafrika. 103. Minute der Verlängerung, es steht 1:1. Thierry Henry begeht ein offensichtliches Handspiel, zweimal berührt seine linke Hand im Strafraum den Ball. Er spielt weiter, flankt, William Gallas trifft, 2:1. Tor. Irland war nicht bei der WM dabei.

„Skandal!, Trap' wurde bestohlen“, schrieb damals „Corriere dello Sport“. Trapattoni schrie sich am Platz heiser. „Hand, Hand, Hand!“, schrie er dem vierten Offiziellen und klopfte sich unübersehbar minutenlang auf die linke Hand. Doch die (falsche) Tatsachen-Entscheidung des Schweden Martin Hansson hatte Bestand, Proteste wurden abgelehnt, es gab auch kein Wiederholungsspiel – dafür einen Scheck über fünf Millionen Euro vom Weltverband Fifa. Damit Irlands Verband nicht klagt und die WM in Südafrika ihren Frieden hatte. „Le Hand Gottes – Betrüger Henry macht den Maradona“, urteilte damals die „Sun“.


Tag der Abrechnung. Fünf Spieler aus dem aktuellen Irland-Team waren damals schon dabei. „Natürlich wird darüber gesprochen, aber ich weiß nicht, ob es uns beeinflussen soll“, betont O'Neill. Doch selbst die „Immer-Gute-Laune“-Fans sinnen auf Wiedergutmachung – es wird also ungeheuer laut und gewiss immens emotional. „Eine alte Rechnung ist zu begleichen“, ahnt bereits die „L'Équipe“.

Frankreich hat bei dieser Neuauflage aber nicht unerhebliche Vorteile. Die Mannschaft hat als EM-Gastgeber Rückenwind, die Ergebnisse aus der Gruppenphase verheißen bessere Chancen, und als Sieger der Gruppe A hatte die Équipe Tricolore viel mehr Regenerationszeit und Ruhe, sich auf dieses Spiel vorzubereiten. Seit Montag hat Didier Deschamps seine Mannschaft nur noch auf dieses Spiel eingestellt. Nach einem Pressemeeting mit Dimitri Payet und Yohan Cabaye gab es am Dienstag nur noch ein für Medien offenes Training. Danach gingen die Türen zu, der Baske begehrte seine Ruhe. Verbandschef Noël Le Graët betonte, dass es das Ziel bleibe, unter die besten vier zu kommen – also wurden die Tore komplett abgeriegelt.

Vermutet wird nun, dass Frankreich nach personellen Experimenten wieder zu der Elf zurückkehrt, die im Eröffnungsspiel begonnen hat. Sprich, mit Paul Pogba und Antoine Griezmann, aber auch mit den Gelb-vorbelasteten Rami, Koscielny, N'Golo Kanté und Mittelstürmer Giroud. Bayerns Kingsley Coman, der schnellste Mann dieser EM mit „geblitzten“ 33 km/h, wird wohl auf der Bank Platz nehmen.

Eines wissen die Franzosen: Je länger es in dem K.-o.-Spiel unentschieden steht, umso schwieriger wird es. Dann werden mit jedem Angriff die Rufe der Iren von den Rängen lauter, dann erhält die Szenerie des 18. November 2009 neue Gestalt. Rami: „Es ist immer noch dasselbe, wir müssen da draußen Fußball spielen. Und wenn möglich, das Spiel vor der 85. Minute gewinnen. Denn das könnte dann psychologisch doch härter werden.“ RED.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2016)

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