Die Bälle des Lebens

„Die Fotografin“: William Boyd entwirft die fiktive Autobiografie einer selbstbewussten Künstlerin im frühen 20. Jahrhundert. Allen Ratschlägen zum Trotz wandert sie mit ihrer Kamera zwischen Kunst und Dokumentation. Existenzielle Tiefe in einem packenden Plot.

Wer einen Künstlerroman schreibt, tut sich oft schwer, das Werk des porträtierten Künstlers einzubeziehen. Die fiktionale Erzählung über einen Schriftsteller oder Komponisten gewinnt selten an Überzeugungskraft, wenn seitenlang fiktive Texte oder Partituren ausgebreitet werden. Sich dem Leben und Werk eines Fotografen zu nähern bietet hingegen die leicht zu realisierende Möglichkeit, Teile der Arbeit zu präsentieren und Fotos in die Romanhandlung einzubauen. Genau das tut der 1952 geborene William Boyd in „Die Fotografin“ (im Original: „Sweet Caress“), wenn er das Leben der 1908 geborenen Amory Clay darzustellen beginnt. Bereits 1998 hatte Boyd in „Nat Tate. Ein amerikanischer Künstler“ so getan, als präsentiere er das Werk eines realen Malers – eine großartige Inszenierung, bei der selbst David Bowie mitwirkte und an deren Ende eine vermeintliche Ausstellung des Tate'schen Œuvres stand.

„Die Fotografin“ gibt sich eindeutig als Roman zu erkennen, wenngleich Boyd viele Anstrengungen unternimmt, seine Leser zum Grübeln (oder Googeln) zu nötigen. Die Fiktion so real erscheinen zu lassen, dass man vergisst, es mit Fiktion zu tun zu haben– so hat Boyd selbst seine Absicht beschrieben, und sein neuer, klug komponierter Roman setzt das brillant um. Über 70 historische Fotografien unbekannter Urheber, die Boyd auf Flohmärkten und im Internet erworben hat, sind in Amory Clays Geschichte eingewoben – suggerierend, es handele sich um Stücke aus dem Fundus der Künstlerin.

Erzählt werden ihre „vielen Leben“ im Rückblick, als fingierte Autobiografie: Die Endsechzigerin hat sich mit ihrem Labrador auf eine kleine Insel vor der schottischen Westküste zurückgezogen, verkehrt nur mit wenigen Freunden, bekommt ab und zu Besuch von ihrer Schwester, einer berühmten Pianistin, und erträgt die Avancen des Hoteliers Hugo gleichmütig. Nicht ohne Bitterkeit lässt Amory Revue passieren, was sie erlebt und erlitten hat. Als unberechenbar empfindet sie die Bälle, die einem das Leben zuspielt: „Manchmal hatte ich den Eindruck, dass mein Leben sich fast ausschließlich aus solch unfair geworfenen Bällen und unangenehmen Überraschungen zusammensetzte.“

Eine nicht repräsentative Biografie ist es, die Amory Clay vorzuweisen hat. Den Rat ihrer Eltern in den Wind schlagend, will sie als Fotografin Karriere machen – ein erstaunlicher Berufswunsch für eine Frau in den 1920er-Jahren, obwohl es dafür Vorbilder gibt: Boyd dankt im Nachwort vielen bekannten Fotografinnen wie Lee Miller, Gerda Taro oder Dora Kallmus. Amorys Werk lässt sich keinem exakten Genre zuordnen: Das eine Mal arbeitet sie ohne künstlerische Ambitionen für ein Modemagazin, ein anderes Mal sorgt sie in London für einen Skandal, als sie, so die Presse, „abstoßende Bilder“ aus dem Berliner Nachtleben der Weimarer Republik ausstellt; oder sie setzt, im Alter, schottische Hochzeitspaare folkloristisch in Szene, oder wird bei faschistischen Aufmärschen in London schwer verletzt. Immer wieder feiert sie als Kriegsfotografin Erfolge, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und im Vietnam-Krieg.

Von finanziellen oder privaten Gründen getrieben wechselt sie die Kontinente, arbeitet in London, Berlin, New York, Paris. Durch alle Krisen hindurch erfährt sie die Förderung von Cleveland Finzi, einem Strippenzieher im Zeitschriften- und Agenturgeschäft, mit dem sie über viele Jahre eine leidenschaftliche Affäre hat, ohne dass sie darauf hoffen darf, dass er seine behinderte Frau jemals verlassen würde. Parallel dazu unterhält Amory eine Beziehung mit einem französischen Romancier, der in einem Schlüsselroman ihr Verhältnis zur Schau stellt – ein weiterer Erzählstrang, der das Verhältnis von Realität und Fiktion widerspiegelt.

William Boyd hat bisher ein gutes Dutzend Romane vorgelegt, darunter so große Bücher wie „Ruhelos“ und „Einfache Gewitter“. Von der Konstruktion her knüpft „Die Fotografin“ an „Eines Menschen Herz“ aus dem Jahr 2002 an, bezieht Amorys abenteuerliches Leben auf die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und entgeht doch der Gefahr, Zeitgeschichte als Dekorum einzusetzen. Was Amory geprägt hat, demonstriert beiläufig und bewegend zugleich, wie das Leben des Einzelnen sich nicht von den Mächten der Geschichte lösen kann.

Diese wiederholt sich – eine bittere Erfahrung, die Amory machen muss, denn sowohl ihr Vater, ein mäßig erfolgreicher Autor, als auch ihr späterer Ehemann Sholto werden die Traumata, die ihnen der Erste beziehungsweise Zweite Weltkrieg zugefügt hat, nicht los. Während sich der zusehends verarmende Ehemann um den Verstand trinkt, muss Amorys Vater in eine psychiatrische Nobelklinik eingewiesen werden, weil er versuchte, sich und seine Tochter in einem Teich zu ertränken. Dass auch Amorys Bruder Xan, Soldat und Lyriker, nicht aus dem Krieg zurückkehrt, ist der nächste Schock, mit dem Amory fertigwerden muss.

Am faszinierendsten in Boyds Roman ist fraglos dessen Hauptfigur. Das Wagnis, sich in das Denken und Fühlen einer Frau hineinzuversetzen, meistert Boyd souverän, ohne dabei seiner Protagonistin mit übergroßer Empathie zu begegnen. Im Gegenteil: Je länger man Amory begleitet, desto rätselhafter erscheint sie. Bei allen Schicksalsschlägen, die sie ereilen, bewahrt sie eine schwer zu durchdringende Kühle und Nüchternheit, meidet sie übergroße emotionale Ausschläge. Als sie – nachdem sie in jugendlicher Unbedarftheit vergeblich versucht hat, ihren homosexuellen Onkel zu verführen – ihren erotischen Durchbruch erlebt, setzt die Leidenschaft nie ihren Verstand außer Kraft, und als sie entgegen allen ärztlichen Prognosen schwanger wird und Zwillinge gebiert, genießt sie ihr Mutterglück höchst beherrscht.

Amory Clay ist ein fesselnder, schillernder Charakter, der keine voreilige Leseridentifikation befördert. Auch als sie in ihrem Inselcottage mit leiser Melancholie zurückblickt und sogar an Selbstmord denkt, versucht sie, die Kontrolle über ihre Gefühle zu behalten – ein Kraftakt, der diesem Roman eine so große Strahlkraft gibt. In jungen Jahren hoffte sie, als Fotografin die Macht zu besitzen, „die Zeit anzuhalten“. Ein Irrtum, denn dem Tod entgegenzutreten, das gelingt auch Amory und ihren Kameras nicht. Eine Erkenntnis aber hat sie gewonnen: „Die persönliche Erfahrung im Umgang mit dem Tod lehrt einen das Wesentliche, nämlich, was es bedeutet zu leben – zu empfinden und zu atmen. Eine entscheidende Lektion, denn wer darum weiß, vermag auch zu erkennen, wann das Leben nicht mehr lebenswert ist – und dann kann er getrost sterben.“

Es gibt nicht viele zeitgenössische Autoren, die es verstehen, existenzielle Tiefe mit einem packenden Plot und eindringlichen Figuren zu verbinden. William Boyd ist einer von ihnen. ■

William Boyd

Die Fotografin

Die vielen Leben der Amory Clay.
Roman. Aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky und Ulrike Thiesmeyer. 560 S., 73 SW-Abb., € 24,70 (Berlin Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2016)

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