Zwischen Humanismus und Abschottung Europas

Hat ein Gastgeber das Recht, die Arme auszubreiten und zu erklären: Wir schaffen das – auch wenn das auf Widerstand stößt?

Wie gut ich Menschen verstehe, die ihrer angestammten Heimat den Rücken kehren und anderswo ein neues Leben beginnen wollen! Auch ich habe in meinem Land keine Perspektive für mich gesehen, bin nach Gefängnis und Berufsverbot von einem kommunistischen Staat in einen anderen, weniger diktatorischen, dennoch gleichfalls staatssozialistischen, ausgewandert, habe 1968, wie ein ostdeutscher Kommentator meinte, Republikflucht nach Ungarn begangen. Im Exilland gehen dich die Dinge irgendwie weniger an.

Heimat ist eng an deine Biografie gebunden, die aufgenommene Kultur, an die Muttersprache und an die neue Sprache, die dir nie ganz gehören wird, dennoch aber mit dir verschmilzt, sodass du am Ende zwei Identitäten besitzt. Ohne schizophren zu werden, pendelst du zwischen deinen beiden Ichs hin und her.

Bis 1973 mag es gedauert haben, ehe ich begriff, dass auch eine Soft-Diktatur eine Diktatur ist, weshalb ich erneut die Initiative ergriff und mich mit einem falschen Pass über die innerdeutsche Grenze in den anderen Teil meines Vaterlands absetzte. Irgendwann dann glaubte ich zu erkennen, dass ich weder in Ost- noch in Westdeutschland willkommen war.

Wanderer zwischen Welten

Im einen Teil störte mich der nahtlose Übergang von der faschistischen in die sozialistische Volksbeglückungsideologie; im anderen die demokratisch-ideologische Erotik der Belanglosigkeit. Ich entschied mich für eine Rückkehr in mein erstes Exilland, in dem Janos Kádárs lebenslänglich über mich verhängtes Einreiseverbot inzwischen gleichfalls dort gelandet war, wo solche Dinge hingehören: auf dem Müllhaufen der Geschichte.

All das musste ich vorausschicken, um zu verdeutlichen, dass ich durchaus ein Freund von Wanderern zwischen zwei Welten bin, alles andere als ein Feind von Flüchtlingen, Unzufriedenen mit ihrer Situation im Heimatland, Abenteurern. Und schon gar nicht bin ich ein Feind von Kriegs- und politischen Flüchtlingen, deren physische und geistige Existenz in akute Gefahr geraten ist.

Ich bin kein Politiker, weiß aber natürlich, dass die Institution des politischen Asyls ein hohes Gut ist. Ich weiß, dass wir, denen es in jeder Hinsicht gewissermaßen unverdient gut geht, moralisch in der Pflicht sind, Hilfsbedürftigen nicht die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Doch wie viele Menschen müssen notwendigerweise draußen vor der Tür bleiben? Weil kein Platz mehr ist oder die Menschen keinen Platz machen, Fremden keinen Einlass gewähren wollen?

Hat ein Gastgeber das Recht, sich seine Gäste auszusuchen, hat er das Recht, Einladungen auszusprechen? Vielleicht auch Gäste in eine ihm nicht oder doch zumindest nicht allein gehörende Wohnung einzuladen? Oder den Wohnungsinhaber zu zwingen, Gäste in schwindelerregender Höhe zu beherbergen; Gäste mit einem Frauenbild, das als frauenfeindlich bezeichnet werden könnte, das bis hin zu Vergewaltigungen gehen kann, um die Ehre des Gegners zu beschmutzen; Gäste, die von einer sexuellen Befreiung träumen, von bisher in das Reich der Träume gehörendem Wohlstand, von einer neuen, friedlichen Heimat, die sich sonst nicht von der alten unterscheiden sollte?

Hat ein Gastgeber das Recht, im Pluralis Majestatis die Arme auszubreiten und zu erklären: Wir schaffen das – auch wenn diese Behauptung auf Widerstand stößt? Darf man Zäune und Mauern bauen, um sich gegen einen Flüchtlingsstrom sondergleichen zu schützen? Darf man solche Mauern in einem Atemzug mit der Berliner Mauer nennen, wenn diese nicht die Flucht nach draußen, sondern das Eindringen verhindern?

Europa als Lösungsschlüssel

Darf man Millionen von nach Deutschland drängenden Flüchtlingen mit den auf Asyl angewiesenen deutschen Juden Hitlerdeutschlands gleichsetzen, die lediglich 0,5 Prozent, sprich 400.000 Menschen, der damaligen Bevölkerung ausmachten? Darf man riskieren, dass islamistischer Terror nach Europa getragen wird, dass demokratische Regierungen destabilisiert werden? Darf man sich hilflos der Gefahr aussetzen, den Antisemitismus in Europa Auferstehung feiern zu lassen?

Vergebens bemühen Politiker und sogenannte Gutmenschen die Vergangenheit. Auf der Tagesordnung stehen Gegenwart und Zukunft. Nicht nur die leidvollen aktuellen Kriege, auch die Bevölkerungsexplosion in außereuropäischen Ländern lassen Europa als einen Lösungsschlüssel für all die in ihren Heimatländern nicht zu bewältigenden Probleme erscheinen. Konflikte und Lebensgefühl werden nach Europa importiert.

Warum nicht auch in die USA, die doch als Weltpolizist eine erhebliche Verantwortung für die gegenwärtige Misere tragen? Gehört der Islam zu Europa? Zum Teil sicher schon. Aber noch nicht zum überwiegenden Teil! Haben die Mehrheitsnationen ein Recht darauf, sich abzugrenzen?

Expansion des Islam

Präsentiert die Dritte Welt jetzt die Rechnung für die Kolonialpolitik zurückliegender Jahrhunderte, für die ungeheure Ausbeutung fremder Völker? Wenn dem so wäre, dann würde sich die Frage stellen, was die Visegrád-Staaten damit zu tun haben? Ganz zu schweigen davon, dass so gut wie niemand unter den Migranten in den ärmeren Ländern Osteuropas für sich eine Perspektive zu erblicken scheint.

Fragen über Fragen! Sicher dürfte einzig die Vermutung einer eklatanten Inkompatibilität des ziemlich unterschiedlichen Lebensgefühls sein. Und sicher könnte auch eine weltpolitisch sich abzeichnende Expansion des Islam sein. Was bleibt den Menschen in den Armenhäusern der Erde, wenn die Zahlen der Weltbevölkerung explodieren, während die Europas implodieren? Sich auf die Wanderung, eine Völkerwanderung gigantischen Ausmaßes begeben!

Darf Europa sich gegen diesen Migrations-Tsunami schützen? Gegen eine kollektive Überflutung? Erfolgreich und konfliktarm aufgenommen und integriert werden können immer nur Einzelne. Kollektive Aufnahme führt zu Parallelgesellschaften. Und die wollen irgendwann einmal dem sozialen Frust entkommen und das Sagen haben.

Aufstieg und Niedergang

Die Erdgeschichte ist eine Geschichte von Kriegen und Völkerwanderungen, eine Geschichte von untergehenden und aufsteigenden Völkern und Kulturen. Nationen und Kulturen werden geboren, erleben ihre Blütezeit und ihren Niedergang. Der Bevölkerungsschwund in Europa ist keine Katastrophe, lediglich ein Symptom für den Untergang einer Kultur.

Wir dürfen dessen gewiss sein, dass unser Kontinent nicht unbewohnt bleiben wird, auch wenn die alten Völker, die alten Kulturen Europas eines nicht allzu fernen Tages aussterben oder günstigerenfalls assimiliert werden.

Noch aber könnten die europäischen Gesellschaften den Spagat zwischen gebotener Menschlichkeit und Abschottung versuchen. Vielleicht schafft es Europa ja noch einmal, dem Tod von der Schippe zu springen. Ach, Europa, du meine Geliebte!

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Hans-Henning Paetzke
(* 1943 in Leipzig) studierte klassische Philologie, Germanistik und Psychologie in Halle/S., Budapest und Frankfurt/M., 1968 Emigration nach Ungarn, 1973 nach Frankfurt/M. Seit 1968 freiberuflich als literarischer Übersetzer, Herausgeber, Journalist und Schriftsteller tätig; circa 80 Buchübersetzungen. [ Daniel Kaldori ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2016)

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