Weiße Herren, schwarzer Stolz

Wie die Unesco 1952 die brasilianische „Rassendemokratie“ erfand – und wie es um Rassendiskriminierung im Land der diesjährigen Olympischen Spiele wirklich steht.

Geboren 1939 im Kärntner Lesachtal. Studium in Wien und an der Cornell University, jahrzehntelange Arbeit in Lateinamerika. Professur an der Andenuniversität in Bogotá. Emeritierter Ordinarius für Außereuropäische Geschichte an der Universität Wien.

Nach den Schrecken, mit denen Nationalsozialismus und Faschismus Europa überzogen und zerstört hatten, suchten die Väter einer besseren Weltordnung nach alternativen Erfahrungen. Der im November 1945 aus der Taufe gehobenen Kulturorganisation Unesco, deren erster Generalsekretär, Johann Huxley, Bruder des noch berühmteren Aldous Huxley, einen „evolutionären Humanismus“ favorisierte, fiel die Aufgabe zu, den Finger auf die schwärende Wunde des Rassismus zu legen.

Wo gab es ermutigende Erfahrungen? Die Vereinigten Staaten, damals noch tief der gesetzlich verankerten Rassentrennung verhaftet, kamen dafür nicht infrage. Aber irrlichterten um Brasilien nicht Begriffe wie „Rassendemokratie“ oder „Rassenharmonie“? In der Tat hatte 1933 ein gewisser Gilberto Freyre, als Reaktion auf Hitlers Rassenwahn, den psychodelischen Text „Casa Grande e Senzala“ („Herrenhaus und Sklavenhütte“) veröffentlicht. Darin feierte der junge Autor, fröhlich im „Luso-Tropicalismo“ unterwegs, Brasilien als harmonische, multirassische Gemeinschaft. Somit war der Ort für die Fallstudie gefunden.

Europa wusste damals wenig über das riesige südamerikanische Land. Expertenwissen kursierte am ehesten unter Anthropologen vom Schlag eines Claude Lévi-Strauss, aktiv bei der Suche nach absterbenden Indianerkulturen. Es dauerte daher, bis das Projekt abheben konnte. Attraktive Forschungsgelder verführten zu heftigen Platzkämpfen. Nicht etwa brasilianische Kenner der Materie, sondern westliche Professoren eroberten die Führungsplätze. Nur Freyre durfte mithalten.

„Racial harmony and democracy“?

Als die eigentlichen Wortführer, Alfred Métraux, Charles Wagley, Roger Bastide, 1952 im Unesco-„Courier“ tentative Ergebnisse veröffentlichten und euphorisch über Brasiliens angebliche Rassendemokratie schwafelten („Brazil is one of the rare countries which have achieved racial harmony and racial democracy“), gab es zuerst Erstaunen, dann aber doch beißende Kritik. Denn ein offener Blick enthüllte sofort krasse Ungleichheit und zähen Rassismus. Weitere Forschungsergebnisse verschwanden im Pariser Archiv.

Man könnte natürlich die Debatte auf den Kopf stellen und argumentieren, Brasilien sei ein besonders schlimmer Ort für rassische Diskriminierung. Fingerzeig Geschichte: Portugals Kolonialherren schufen eine schreiend ungerechte Ordnung, in der schwarze Sklaven gesellschaftlich den Bodensatz stellten, um gleichzeitig ökonomisch eine patrimoniale Oligarchie zu nähren. Deshalb wurde die Sklaverei im 1822 unabhängigen Kaiserreich Brasilien beibehalten und erst 1888 (!) aufgehoben. Immerhin gab es keine Segregationsgesetze. Indes, Brasiliens Elite, mit der Unabhängigkeit modernisierungssüchtig, störte die „Minderwertigkeit“ der schwarz-indianisch-kreolischen Rassenmischung. Dem entsprang die Idee des „branqueamento“, des „Aufweißens“ der eigenen Bevölkerung mittels europäischer Einwanderer. Schließlich las man in der Oberschicht begeistert französische Rassisten wie Arthur de Gobineau.

Tatsächlich kamen nach 1850 Italiener, Deutsche, Skandinavier, auch Japaner ins Land. Allerdings heirateten sie keineswegs Mulatten oder Indianer, sondern blieben unter sich, sodass die rassische Matrix keine Änderung erfuhr. Außerdem verlor diese lächerliche Debatte im 20. Jahrhundert an Boden, obschon faschistische Versuchungen gelegentlich wetterleuchteten. Aber man fand sich mit der mestizischen Qualität der eigenen Bevölkerung ab. Daher 1933 der Geniestreich von Gilberto Freyre, Soziologe, bevor es noch eine soziologische Ausbildung im Land gab.

Es war sein Aufruf zu einer Neuinterpretation brasilianischer Geschichte, mit Helden überall, auch in der Oberschicht. Freyre zelebrierte die weißen Herren, die anstelle von Kathedralen eben „Herrenhäuser“ (Casa grande) errichten ließen und darin, ohne Vorurteil, alle afrikanischen oder indianischen Frauen schwängerten, „denn für ein wertloses Schmuckstück oder einen Spiegelscherben boten sie sich mit gespreizten Beinen den Portugiesen an, die es immer nach Frauen gelüstete“. Es strotzt der Text von so sexistischen Passagen, sodass in meinen Vorlesungen Studentinnen, feministisch gewappnet, empört dazwischenriefen. Übrigens ließ sich Stefan Zweig für sein überirdisches Buch „Brasilien – Ein Land der Zukunft“ (1942) durchaus von dieser dionysischen Geschichtsschau inspirieren. Nur – sie stimmt nicht.

Früh gab es handfeste Untersuchungen zur schwierigen Situation der Afrobrasilianer. Arturo Ramos' „O negro brasileiro“ von 1934 hätte, sofern gelesen, alle diese Romantisierungen zertrümmert. Auch die Literatur hat oft die Wahrheit benannt. Jorge Amado, Magier des brasilianischen Erzählens, packte in seine großartige, von Erotik pulsierende Fabulierkunst auch immer eine beinharte Anklage der rassischen und religiösen Diskriminierung der schwarzen Volkskultur.

Verwunderlich für europäische Augen mag sein, dass die Zugehörigkeit zu einer der zahlreichen Farbschattierungen in der Bevölkerung nicht als rassisches Konstrukt funktioniert, sondern aus dem Kopf kommt. Bei mehrfachen Erhebungen, bei denen die Befragten ihre Hautfarbe frei definieren konnten, registrierte man mehr als 130 Termini. Interessanterweise nahm „schwarz“ (preto, negro), anfangs noch negativ konnotiert, neuerdings bei Nennungen zu, weil der Stolz auf die eigene schwarze Haut wächst. Solches versucht die Hochglanzzeitschrift „Raza“ (Rasse) zu fördern, indem die Redaktion erfolgreiche Afrobrasilianer in Kultur, Sport, Mode, Politik und Wirtschaft vorstellt. Das wertet natürlich die dunkelhäutigen Brasilianer auf, die nach wie vor rund die Hälfte der 200 Millionen Einwohner Brasiliens ausmachen.

Vieles wurde erreicht. Schwarze Studenten bekamen in den Staatsuniversitäten sichere Plätze zugeschrieben. Dank des Wirtschaftsbooms der vergangenen Dekade gelang vielen Afrobrasilianern sogar der Aufstieg zur Mittelklasse. Leider fallen manche in der momentanen Flaute in die Favela-Armut zurück. Deswegen stimmt heute die schon wieder gern zitierte These von Brasiliens multiethnischer Demokratie noch immer nicht. „Wir Brasilianer waren immer rassistisch und gewalttätig“, donnerte der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato als Eröffnungsredner auf der Frankfurter Buchmesse, damit uns Europäer erschreckend, die wir Brasilien gerne als Paradies betörender Schönheit und vitaler Lebensfreude sehen wollen. Alles falsch, spottet auch der Herausgeber von „Raza“: Das Missverständnis rühre daher, dass der Weiße so tut, als diskriminiere er die Schwarzen nicht, und der Schwarze tut so, als würde er nicht diskriminiert; daher leben beide in gewisser Weise „harmonisch“ nebeneinander.

Möge die Meeresgöttin Yemanjá, an die alle Brasilianer, schwarz wie weiß, glauben, zumindest für Rios kommende Olympische Spiele Sanftheit herbeizaubern. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2016)

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