Nu macht doch mal uff!

Immer mehr Menschen kamen hinzu. Die Menge war ein- deutig ängstlich – aber sie war riesig. 70.000! Alle riefen: „Wir sind das Volk!“ Wendezeiten – eine Revolution im Rückblick.

Am 9. November 1989 saß der Bürgerrechtler Werner Schulz mit Leuten vom Neuen Forum in seiner Wohnung in Pankow. „Wir haben gerade am Programm unserer Gruppe geschrieben, als abends ein Freund hereinkam und sagte: ,Mensch, warum sitzt ihr da! Kommt raus! Die Grenze ist offen!‘ Ich schaltete sofort den Fernseher ein. Wir sahen uns die Nachrichten an – es schien zu stimmen!“ – Schulz ging ins Schlafzimmer und weckte seine Frau. Dann liefen alle zur Bornholmer Straße. Den Grenzübergang konnten sie unbehindert passieren. „400, 500 Meter gingen wir in den Westen hinein. Auf einmal schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Um Gottes willen, die wollen sich ja nur Luft machen! Ich wurde von Panik ergriffen. Grenzöffnung? Das war wohl nur ein Versehen der DDR-Führung – wir alle warteten damals auf die versprochene Neuregelung des Reisegesetzes. Ich bin sofort zurück, wie ein Geisterfahrer gegen den Strom der anderen. Die Leute sahen mich an wie einen Verrückten!“

Ich treffe Werner Schulz im Berliner „Café Einstein“ Unter den Linden. Heute ist er Politiker von Bündnis 90/Die Grünen, vor 20 Jahren war er an der Herbstrevolution in der DDR direkt beteiligt. War es überhaupt eine Revolution? Der große Historiker François Furet lehnte einen Vergleich von 1989 mit der Französischen Revolution ab, weil vom Sturz des Sowjetimperiums und seiner Satellitenregime – im Gegensatz zu 1789 – keineIdee ausgegangen sei. Welcher Irrtum! Die Französische Revolution hatte mit Gewalt begonnen und mit Gewalt geendet. Genau das vermochten die Bürgerrechtler 1989 undin den Jahren davor zu vermeiden. Die subversive Strategie, sich Schritt für Schritt Freiräume neben den staatlichen Strukturen zu verschaffen (in der Danziger Werft, den Samisdat-Texten oder den evangelischen Kirchender DDR), war ihre neue Idee. Sie ging unter anderem auf Václav Havel und Adam Michnik zurück. In angewandter Dialektik beriefen sich die Dissidenten auf Bestimmungen, die dieHerrscher formal akzeptiert hatten, aber nie angewandt wissen wollten: Verfassungsrechte etwa oder den Menschenrechtsteil der KSZE-Schlussakte von Helsinki. Als zentrales Element der Revolution von 1989 erscheint mir die unbedingte Hinwendung zum einzelnen Menschen, seiner Freiheit und seinen unverlierbaren Rechten. Dafür riskierten Menschen ihr Leben. Die kommunistischen Regime lebten von der öffentlichen Lüge und ihrem semantischen Monopol. Das haben die Bürgerrechtler in vielen Ländern Ostmitteleuropas durchbrochen. Ihre Revolution begann als eine Revolution der Sprache und Zeichen. Sie endete mit dem politischen Umbruch ganz „Osteuropas“.

Werner Schulz weist mich darauf hin, dass die meisten Demonstrationszüge in der DDR nicht von Rathäusern oder Universitäten, nicht von Kulturhäusern oder Theatern ausgingen – „dort saßen die Angepassten“ –, sondern von den Kirchen. „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen“, sagte später ein Stasi-Offizier nach den dramatischen Tagen von Leipzig. Werner Schulz war auch damals dabei, am berühmten 9.Oktober 1989, als es möglich erschien, dass die traditionelle Montagsdemonstrationnach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche im Blut ertränkt werden würde.

„Das Neue Forum hat mich als seinen Vertreter nach Leipzig geschickt. Am Montagvormittag bin ich hingefahren. Ich habe wirklich mit meiner Verhaftung gerechnet, daher räumte ich noch belastendes Material aus meiner Wohnung weg. Durchs Hinterhaus, über eine Mauer und durch Schrebergärten entwischte ich meinen Stasi-Bewachern, die vor dem Haus in einem Wartburg saßen. Mit dem Zug in Leipzig angekommen, fand ich Volkspolizei, Betriebskampfgruppen sowie Armeeeinheiten vor. Jetzt kommst du genau in eine Situation wie auf dem Tien'anmen-Platz, sagte ich mir.“ (Dort hatten die Pekinger Machthaber am 4. Juni 1989 eine Studentendemonstration niedergeschossen, es gab Hunderte Tote.) „Ich wollte mich auf dem Weg zur Nikolaikirche verdrücken, aber die Seitenstraßen waren schon zu. Als ich zur Kirche kam, war sie gerammelt voll. Wahrscheinlich hatten sich Stasi-Leute, wie üblich, als Erste hingesetzt, um anderen den Platz wegzunehmen. Nach dem Friedensgebet strömten wir hinaus zumInnenstadtring. Immer mehr Menschen kamen hinzu. Die Menge war eindeutig ängstlich – aber sie war riesig. 70.000! Alle riefen: ,Wir sind das Volk!‘ Wir näherten uns dem ,Runden Eck‘, dem Sitz der Stasi-Bezirksverwaltung in Leipzig. Ich erinnere mich noch an das spärliche Licht der Straßenlampen auf dem dunklen Innenstadtring. Jetzt wird gleich der Knüppeleinsatz beginnen, dachte ich, als Demonstranten zum Stasi-Eingangstor gingen. Doch was machten sie? Sie stellten dort Kerzen auf!“

Es war die unübersehbare Menschenmenge, die die Befehlshaber davon abhielt, den vorbereiteten Einsatzbefehl zu geben. Man hatte scharfe Munition ausgegeben, dieKrankenhäuser alarmiert, Blutkonserven bereitgestellt, die Stallungen auf der Landwirtschaftsmesse AGRA für Internierungen vorbereitet. „Was sollen wir machen?“, fragte man Egon Krenz in Berlin. Der neue SED-Generalsekretär wollte beraten und verspracheinen Rückruf. Der kam aber erst, als die Demonstration friedlich vorbei war. Dass die Sicherheitskräfte zögerten, lag nicht zuletzt daran, dass sie nicht mehr – anders als beim Arbeiteraufstand 1953 – auf ein Eingreifen der 400.000 sowjetischen Soldaten hoffen konnten, die in der DDR stationiert waren. – Schon im Sommer hatte sich das SED-Regime vor dem Dilemma gesehen, entweder freiere Ausreisemöglichkeiten zu gewähren oder die Repression zu verschärfen. Beides probierte die SED, beides ging schief. Allein 1989 gab es 200.000 Straffälle wegen „ungesetzlichenVerlassens“ der DDR.250.000 DDR-Bürger hatten im Herbst einen Ausreiseantrag gestellt. Ganze Familien saßen auf gepackten Koffern. Weit über 100.000 waren über Ungarn und die ČSSR in den Westen geflüchtet. Die Situation drängte nach einer Lösung, doch der Entwurf des neuen Reisegesetzes kam zu spät und sah weiterhin viele Beschränkungen vor. Krenz entschloss sich zu einem riskanten Schritt – und bewirkte abermals das Gegenteil des Gewollten. Um Druck aus dem kochenden Kessel zu nehmen, ließ er vom Zentralkomitee (ZK) in einem abgekürzten Verfahren eine überarbeitete Ausreiseverordnung beschließen. An diesem 9. November gegen 17 Uhr gab die DDR ihr jahrzehntelanges Grenzregime auf.

Günter Schabowski war seit dem Vortag im ZK für Medien zuständig. Er wurde beauftragt, die verschiedenen ZK-Beschlüsse einschließlich der neuen Reiseregelung der Presse bekannt zu geben. Fernsehtechniker hatten sich für die Pressekonferenz vorbereitet – ihre Live-Übertragung sollte an diesem Abend Millionen DDR-Bürger mobilisieren. Gegen Ende der Pressekonferenz las Schabowski von seinen Notizzetteln ab. Dabei ließ er die beiden Sätze über „Versagungsgründe für Privatreisen“ und die „Antragstellung für ständige Ausreise“ ebenso weg wie den Hinweis, dass die neue Übergangsregelung erst vom folgenden Tag an gelten sollte. Ein italienischer Journalist fragte ihn, wann die neue Regelung in Kraft treten werde. Schabowski stotterte: „Unverzüglich... sofort.“ Im Saal herrschte kurz Konfusion. Doch im Nu gewannen Schabowskis Mitteilungen ein fantastisches Eigenleben. Um 19.03 Uhr berichtete Associated Press in einer Eilt-Meldung: „Die DDR öffnet ihre Grenzen“; es war auch die Spitzenmeldung in der ARD-Tagesschau um 20 Uhr. Ungläubig schauten sich die Journalisten an, ungläubig sahen und hörten das auch die Ost-Berliner vor ihren TV-Apparaten. Zu Tausenden begannen sie zu den Grenzübergängen zu strömen. Stimmt es? Stimmt es nicht? Auch in vielen ostdeutschen Städten fuhren Menschen zu den Bahnhöfen und verlangten Fahrkarten nach Westdeutschland.

Die DDR-Grenzorgane fühlten sich überrumpelt. Niemand hatte sie informiert. Die Menge wuchs bedrohlich an. Um 22 Uhr war der Grenzübergang bei der Bornholmer Brücke zwischen Pankow und Wedding von den Massen bereits überflutet. Auch in West-Berlin zogen unzählige Menschen zur Grenze. Da es beim Brandenburger Tor keinen Grenzübergang gab, begannen dort Hunderte Menschen vom Westen her, auf die Mauer zu klettern. Oben tanzten sie wie in Trance. Unten wurden die ersten „Mauerspechte“ aktiv. „Wahnsinn!“ war das meistgerufene Wort.

An diesem Abend saß ich, aus Ost-Berlin zurückgekehrt, in einem ORF-Studio und leitete einen „Club 2“ zum Thema „Oktoberrevolution in der DDR?“. Wir alle kannten die Meldung über die Maueröffnung, doch niemand wusste deren historische Bedeutung schon zu erfassen. Der Wiener Publizist Günther Nenning spürte als Erster das Zukunftsträchtige des Geschehens: „Das ist eine Revolution! Endlich einmal ist das deutsche Volk aufgestanden. Ein Prozess der Nationswerdung hat begonnen. Warum brauchen wir jetzt noch zwei deutsche Staaten? Der ideologische Existenzgrund des Ost-West-Konflikts ist entfallen. Die Wiedervereinigunghat faktisch begonnen.“ Dagegen hielt die Schauspielerin Eva-Maria Hagen die Grenzöffnung noch für einen Traum. 1977 hatte sie wegen ihres Protestes gegen die Ausbürgerung ihres früheren Lebensgefährten Wolf Biermann die eigene DDR-Staatsbürgerschaftverloren und war nach Hamburg gegangen. „Das kann ich erst glauben, wenn ich selbst über die Grenze gehe“, sagte sie in unserer Runde. „Die Flüchtlinge wissen gar nicht, was im Westen auf sie zukommt. Die sind dann die Neger hier.“

In der Kronenstraße 5 in Berlin-Mitte befindet sich die Bundesstiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Stiftungsratsvorsitzender ist Rainer Eppelmann, ehemals evangelischer Pfarrer in der Samaritergemeinde. Seine Blues-Gottesdienste hatten zu DDR-Zeiten Tausende Jugendliche angezogen. Eppelmanns Aktivitäten – insbesonderein der Friedensbewegung – waren den Machthabern verhasst.

Wie hat Eppelmann den Fall der Mauer erlebt? Der Vater von fünf Kindern erzählt:

„Schon der frühe Abend des 9. November war für mich mit einem exotischen Erlebnis verbunden. Auf Anregung vonKonsistorialratspräsident Manfred Stolpe fandin der Französischen Kirche am Gendarmenmarkt eine Veranstaltung statt, bei der alle neu entstandenen oder entstehenden Parteien ihre Programme vorstellen sollten. Die Kirche war knüppeldick voll, es war märchenhaft. Da hast du zum ersten Mal öffentlich sagen können, was in diesem Land passieren muss, damit es besser wird. Hoch beschwingt fuhr ich nach Hause.

Als ich mit meinem Dienst-Trabant ankam, begrüßte mich der evangelische Stadtjugendpfarrer Wolfram Hülsemann, er wohnte im gleichen Haus in Friedrichshain. ,Hast du schon gehört, die Mauer soll offen sein?‘ Natürlich nicht, ich war völlig erstaunt. Wir setzten uns in seinen Wartburg, fuhren Richtung Bornholmer Straße. Den letzten Kilometer vor dem Grenzübergang liefen wir zu Fuß. Offenkundig waren wir nicht die Einzigen, die nachschauen wollten. Da kam dann das zweite exotische Bild dieses Tages: Etwa 100 oder 150 Leute standen direkt vor dem Schlagbaum, offenbar ohne gültige Reisepapiere, sonst wären sie jadurchgegangen. Wir drängelten uns in die erste Reihe und legten die Hände auf den Schlagbaum – der war unten. Einer von den herumstehenden Menschen rief zu den Grenzsoldaten: ,Nu macht doch mal uff. Der Schabowski hat doch jesagt, wa könn'n rüber!‘ Die machten natürlich nicht auf. Da merkte ich zum ersten Mal: Die stehen so komisch da, irgendwiehilflos und nicht so breitbeinig wie sonst im Bewusstsein ihrer Überlegenheit – die Grenzsoldaten waren unbewaffnet!

Später einmal sprach ich mit dem Befehlshaber, einem Oberstleutnant. Der erzählte mir: ,Natürlich habe ich im Fernsehen von Schabowski die Nachricht über die Grenzöffnung gehört. Ich dachte mir, wie soll denn das gehen, die spinnen ja da oben! Dann wurden es immer mehr Menschen, die zu unserem Grenzübergang kamen. Um Gottes willen, was wird dann? Selbst wenn wir zu schießen anfangen, irgendwann nehmen sie uns die Waffen weg. Was würde dann passieren? Darum habe ich meine Männer entwaffnet.‘

Am Schlagbaum ging es eine Weile hin und her zwischen uns und den ratlosen Grenzsoldaten. Bis wir auf die befreiende Idee kamen: Na wenn die det nicht uffmachen, musst du det uffmachen – und da ham wat uffjemacht! Für mich war das ungeheuer wichtig: Nicht Herr Schabowski hat die Mauer aufgemacht, nicht dieser Stasi-Offizier, auch nicht Egon Krenz – es waren die schon halb befreiten DDR-Bürger, die inzwischen in der Lage waren, sich völlig anders zu verhalten als früher. Die Menschen haben nicht ,Sieg‘ gerufen oder ,Freiheit‘ oder ,Demokratie‘. Schon gar nicht haben sie das Deutschlandlied gesungen, die dritte Strophe kannte ja niemand. Es war einfach der Ruf ,Wahnsinn! Wahnsinn! Unbegreiflich!‘. Zugleich diese Widersprüchlichkeit: Die werden die Grenze morgen wieder dichtmachen, was dann? Also auch eine ungeheure Angst.

Ein Grenzsoldat stand unmittelbar neben uns. Er hatte wohl andere Gefühle als wir, guckte aber auch zu. Er konnte das alles nicht verstehen. Da lief eine junge Frau mit einer Rose zu ihm, drückte sie ihm in die Hand und sagte: ,Danke!‘ Ja, das ist es! Ein einziges Wort kann eine Situation verändern! Für mich war und ist das der schönste Abend meines Lebens.“ ■


Unser Foto stammt aus dem Band „Die unsichtbare Mauer“ von Stephan Kaluza, soeben erschienen bei DuMont. Das Buch dokumentiert fotografisch den heutigen Zustand der gesamten ehemaligen Sektorengrenze.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2009)

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