Das Mehr ist längst zu viel

Die Wirklichkeit verliert sich im Diffusen, Ungreifbaren und gewinnt so eine Unheimlichkeit, die Kathrin Röggla von allen Seiten betrachtet. „Nachtsendung“ erzählt von neuen Gespenstern, verunsicherten Apokalyptikern und lächerlichen Wichtigtuern.

Lange ist es her, da prägte der Philosoph Jürgen Habermas die eingängige Formel von der „neuen Unübersichtlichkeit“ unserer Welt. Sich darüber zu beklagen, dass sich kein Überblick mehr über die Zusammenhänge der Gesellschaft gewinnen lasse und alles immer hektischer vonstattengehe, gehört inzwischen zu jenen Klischees, die kaum noch Aussagekraft besitzen.

Kathrin Röggla, die in den vergangenen Jahren vor allem durch Rundfunk- und Theaterarbeiten auf sich aufmerksam machte und mit nicht wenigen Preisen bedacht wurde, kreist in ihrem neuen Prosaband um solche Zustände des Unüberschaubaren und Unverständlichen. In 42 „Unheimlichen Geschichten“ treten Figuren auf, die nicht mehr auf sicherem Boden stehen und mit sich und der verworrenen Welt zu kämpfen haben. Warum sie sich nicht mehr zurechtfinden, hat viele Gründe. Da scheitert man „in den USA“ schon am geografischen Halbwissen, zeigt sich auf der Weltkarte gänzlich „unorientiert“ und nimmt den „Schwund ganzer Halbkontinente in Kauf“. Andernorts machen sich Flughäfen auf und davon oder landen ganze Wochentage im Nirgendwo, stellen sich rätselhafte Gedächtnisverluste ein, werden Schwangerschaften nicht erkannt und irren Bootsflüchtlinge durch die Welt.

Bereits in Rögglas jüngster Prosaveröffentlichung, „die alarmbereiten“ (2010), tat sich ein weites Feld von Flugzeugunglücken, Entführungsfällen, Amokläufen, Bohrlochlecks oder Lebensmittelvergiftungen auf, was die Menschen in einen Alarmzustand versetzte, der sie heillos überforderte. Mit dem, was sich Tag für Tag ereignet, ist nicht mehr zurechtzukommen; die Wirklichkeit verliert sich im Diffusen, Ungreifbaren und gewinnt so eine Unheimlichkeit, die Kathrin Röggla in ihrem neuen Buch von allen Seiten betrachtet. Einen zusammenhängenden Plot entwickeln ihre Geschichten nicht. Manche Figuren treten mehrfach auf; manche Texte werden durch ein „Währenddessen . . .“ zeitlich miteinander verknüpft, und die erste und die letzte Geschichte tragen denselben Titel: „Starter“.

Vor allem aber sind es die Motive des Undurchschaubaren, die Rögglas Prosastücke verklammern. Oftmals nur wenige Seiten umfassend, führen sie die unterschiedlichsten Szenarien vor. Ob in großen Hotels, wo sinnlose Tagungen von Germanisten, Historikern oder beredten Keynote-Speakern stattfinden, oder in Versicherungsunternehmen, ob bei Bürgerinitiativtreffen oder auf Spielplätzen, Weihnachtsfeiern und Klassentreffen – allenthalben läuft etwas aus dem Ruder, tun sich „Risse“ im gewöhnlichen Alltag auf, dessen Akteure Aussetzer haben, ohne mit anderen darüber sprechen zu können. Die Fassade soll, muss erhalten bleiben.

„Gespenster“ sind es, die in schöner romantischer Tradition in Rögglas Geschichten ein- und ausgehen und dem scheinbar durchrationalisierten Treiben der Politiker und Finanzjongleure hohnsprechen. Die „Rede von Geistern“ hat in deren Welt nichts zu suchen, doch ihre Abwehrmechanismen funktionieren nicht mehr und könnten nicht aufhalten, was an Gespenstischem auf leisen Sohlen einherkommt.

An Erklärungen der Phänomene mangelt es wahrhaftig nicht, doch Röggla, deren Arbeiten sich schon immer mit der medialen Vermittlung von Welt befassten, zeigt auf, wie das permanente Sprechen über das Geschehen zu nichts führt. Die Reden, nicht nur auf den genüsslich beschriebenen Symposien und Umweltgipfeln, kreisen um sich selbst. „Verunsicherte Apokalyptiker“ beherrschen das Terrain: Sie alle, die „Unternehmensberater und Mittelschichtsexperten, die Institutsvorsteher und Direktorinnen der Versicherungsvielfalt, die Sprecher der Betriebsblinden und der Firmenteilöffentlichkeiten“, schwadronieren unablässig, doch eine substanzielle Conclusio stellt sich nicht ein. Und wenn eine Figur die Philosophie Machiavellis anführt, um vollmundig einer „Abkehr von der Moralpolitik, von einem Scheinhumanismus“ das Wort zu reden, sind diese Leerformeln leicht zu durchschauen – zumal derjenige, der sie verwendet, den unschönen Doppelnamen Joske-Schwerenbüchler trägt.

Das Mehr an Kommunikationsmöglichkeiten ist ein Zuviel, das den Handelnden Fortschritt nur suggeriert. Wenn (in der Geschichte „Diagnosefront“) ein Mann in einem Onlineforum Hilfe sucht, weil er seit Jahren unter Herzrasen leidet, brandet binnen kurzer Zeit ein „Ansturm der Postings“ auf, randvoll mit absurden, sich widersprechenden Meinungen, die dem Leidenden alle möglichen Ratschläge geben. Dass dieser sich längst aus dem Forum verabschiedet hat, kümmert niemanden. Ein Jahr später immerhin meldet er sich geheilt zurück: Seine Schwester habe ihn mit einem „Hildegard-von-Bingen-Rezept“ versorgt, das Wunder wirke.

Wie in diesem Text injiziert Kathrin Röggla ihren Untergangsbildern eine wohltuende Dosis an boshaftem Witz, der jeden zu moralischen Ton unterläuft. Natürlich ist „Nachtsendung“ auf jeder Seite anzumerken, wie die Farce unserer Gegenwart der Lächerlichkeit preisgegeben werden soll, doch da die Figuren keinen Ausweg wissen und auch deren Verfasserin kein Patentrezept parat hält, bleiben die Texte in einer eleganten Schwebe, die den Eindruck des „Unheimlichen“ erhöht. Die „Reaktionsbereitschaft“ der Menschen sinke, hatte ein Merksatz in Rögglas „die alarmbereiten“ gelautet – „Nachtsendung“ führt mit den angedeuteten, manchmal nur hingetupften Geschichten dazu, dass die Aufmerksamkeit für die Hinter- und Untergründe der Gesellschaft steigt. Das „Unheimliche“ hilft, das „Heimliche“ zu verdeutlichen. ■

Kathrin Röggla

Nachtsendung

Unheimliche Geschichten. 288 S., geb., € 22,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2016)

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