Glück im Winkel

Karl, der pensionierte Lehrer, hat keine Aufgabe mehr. Anna Weidenholzer lässt ihn in ihrem Roman „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ auf die Idee verfallen, herauszufinden, woher die Unzufriedenheit kommt. Dabei taucht er tief in die Schicksale der Bewohner eines Dorfes ein.

In Anna Weidenholzers zweitem Roman, „Weshalb die Herren Seesterne tragen“, macht sich ein pensionierter Lehrer auf die Suche nach dem Glück in Zeiten des Spätkapitalismus. Was er findet, ist weder das Glück der anderen noch das eigene. Damit findet sich Weidenholzers Name innerhalb von vier Jahren bereits zum zweiten Mal auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

In ihrem 2012 erschienenen Romanerstling, „Der Winter tut den Fischen gut“, zeichnet Anna Weidenholzer das feinfühlige Porträt einer Frau mittleren Alters mit den alltäglichen Demütigungen ihrer Arbeitslosigkeit. In „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ erkundet die Autorin weiterhin das Leben jener Menschen, deren Lebensumstände gemeinhin nur selten von Interesse sind. Und das, obwohl es in Mitteleuropa viele von ihnen gibt: Arbeitslose, alte Menschen et cetera. So auch Karl, der pensionierte Lehrer, der nun – ähnlich wie die arbeitslose Frau aus Weidenholzers Debütroman – viel Zeit hat, aber keine Aufgabe. Da er nicht weiß, wie er seine Tage ausfüllen soll, „wohinmit der vielen Zeit“, hat er sich eine Aufgabe gesucht: Mithilfe eines adaptierten Fragebogens zum bhutanischen Bruttonationalglück wird er zehn Leute an zehn Orten befragen und „herausfinden, woher diese Unzufriedenheit kommt, diese Angst, die manche in die falsche Richtung treibt“.

Dafür quartiert sich Karl in einem kleinen, etwas provinziellen Ort im Hotel Post ein und führt Gespräche mit Dorfbewohnern. Namen lässt er sich keine nennen („Die Forschung, Sie wissen, ich möchte hier nicht zu sehr eingebunden sein“), und so treffen wir außer der Hündin Annemarie nur Figuren mit Kürzeln wie F4 oder M2. Bei all dem Persönlichen, das sie Karl erzählen, bleiben sie uns doch seltsam fremd. Während Karl immer tiefer in den Alltag der Dorfbewohner eintaucht, wird auch er immer mehr zum Objekt des Interesses – sowohl der Dorfbewohner als auch der Leser.

In den Erzählungen der Befragten und in Karls Gedanken nehmen Ängste eine größere Rolle als Glück ein. „Wir alle sollten an jemandem festhalten, damit er oder sie nicht weiter auseinanderfällt“, lautet einer der Sätze, die Karl aufnimmt, und es stellt sich bald die Frage, ob nicht Karl derjenige ist, der vom Zerfall bedroht ist. Das Zuhause mit seiner Frau, Margit, hat er ohne Erklärung verlassen („Margit, mein Mädchen, es war so weit, ich musste weg von hier“), die Telefonanrufe bei ihr bleiben meist unbeantwortet. Umso präsenter ist Margit in seinen Gedanken.

Schon in „Der Winter tut den Fischen gut“ integrierte Anna Weidenholzer im Boutiquenbesitzer eine Figur, die mit praktischen Ratschlägen für „die gute Angestellte“ nicht hinter dem Zaun hält. Eine ähnlich regulative Rolle spielt Margits Stimme in Karls Gedanken, die ihm Ratschläge zur richtigen Gesprächsführung, zur Körperhaltung oder zu seiner Forschung gibt. „Margit, du wärst der bessere Karl“, denkt er, und uns beschleicht eine Ahnung, warum Karl seinen für zwei Wochen geplanten Aufenthalt stetig ausdehnt, bis er sechs Wochen im Dorf bleibtund sich die Dorfbewohner sicher sind: Karl ist ein Verrückter, der das Hotel Post übernehmen möchte. Oder „eine Unterkunft, man hört doch überall davon . . . Flüchtlinge oder Frauen“. An manchen Stellen des Romans bekommen Ängste ein konkretes Gesicht, ohne dass Weidenholzer politische Stimmungen oder das komplizierte soziale Gefüge des Dorfes beschreibt, was die Spannung des Romans erhält.

Die Autorin bleibt parteilos und neutral: Mit feinen Strichen zeichnet sie den Dorfbewohner M2, der in seinem Heizraum eine Südseeinsel errichtet – mit Plastikpalme, Liegestuhl, an die Wand tapeziertem Meer und beigem Teppich statt echten Sands („Ich muss ihn jedes Mal verstecken, wenn die Rauchfangkehrerin kommt, brennbares Material, nicht erlaubt“). Dabei wirkt M2 ebenso wenig wie Karl oder die Bewohner des Orts bemitleidenswert. Nicht nur an M2, sondern auch an Karls Ehe zeigt Anna Weidenholzer, dass die Dorfbewohner nicht nur Ängste haben, sondern auch an etwas festhalten. An einem Ehepartner, einem Hund, einem eigenwilligen Forschungsprojekt.Oder wie die Frau F4 an einem Heft, in dem sie schöne Momente aufschreibt: „Hautcreme überraschend im Sonderangebot.Frau auf der Bundesstraße überfahren, zum Glück kenne ich sie nicht.“ Unverkennbar blitzt hier Weidenholzers verhaltene Ironie durch, die jedoch nie auf Kosten der Figuren geht.

Für den Roman „Der Winter tut den Fischen gut“ hat Weidenholzer Interviews mit Arbeitslosen geführt, die sie in ihrer Hauptfigur verdichtet. Damit knüpft sie an die Tradition der Dokumentarliteratur an, Texte wie Erika Runges „Bottroper Protokolle“ (1968) oder Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ (1977). Bei Weidenholzer steht jedoch nicht die Emanzipation einer ganzen Klasse (Runge) oder einzelner Frauen (Wander) im Mittelpunkt, sondern die allgemeinere politische und soziale Frage nach Zufriedenheit in Zeiten des Spätkapitalismus. Während dokumentarisch orientiertes Schreiben wie Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“ post 2000 eher an der Arbeitswelt der New Economy interessiert ist, gilt Weidenholzers Interesse jenen, die in der beschleunigten Welt des Spätkapitalismus gern vergessen werden. Der arbeitslosen Mittvierzigerin. Karl, dem „Best Ager“. Der sparsamen Wirtin im kaum rentablen Hotel Post.

Daher ist „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ als Kommentar zu Weidenholzers Arbeitsweise in ihrem ersten Roman lesbar, aber auch zu jener in ihrem zweiten. Schon „Der Winter tut den Fischen gut“ ist durchkomponiert, nimmt dokumentarisches Material nur als Grundlage. Ähnlich im zweiten Roman, in dem Weidenholzer dokumentarische Techniken zwar thematisiert, aber über ein Abbilden der Befragungen und Gespräche hinausgeht. Der Roman ist nicht chronologisch erzählt, Karls Selbstgespräche sowie Passagen aus dem Fragebogen durchbrechen die Linearität des Textes. Auch sie bedingen die seltsam entrückten Figuren, die Weidenholzer mit distanzierter Lakonik zeichnet – weder dezidiert politisch (wie Runge) noch unverhohlen parteiisch (wie Wander).

Jedoch dekonstruiert schon „Der Winter tut den Fischen gut“ sozialstaatliche Wohlfahrt: Die Mittvierzigerin hat sich ihr Arbeitslosengeld verdient, so wie Karl sich seine Pension; er sollte dem Sozialstaat dankbar dafür sein, seine Tage nun abseits des Broterwerbs füllen zu können. Dass seine neue Lebenssituation wesentlich komplizierter ist, wird bei der Lektüre des Romans bald ersichtlich. Und während ich in diesem Buch lese, google ich die Wortkombination „Senioren“ und „Glück“ und stoße so auf das Seniorenheim Glück im Winkel.

Anna Weidenholzer holt Menschen aus den Winkeln, in denen wir sie abgestellt haben, und lässt sie erzählen. Von der komplizierten Sache mit dem Glück und der Zufriedenheit. ■

Anna Weidenholzer

Weshalb die Herren Seesterne tragen

Roman. 192 S., geb., € 20,60 (Matthes & Seitz Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2016)

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