Schweigen in Blau

„Mutter behütet uns vor Vater, Vater behütet uns vor den Wölfen, wir Kinder hüten einander, wie die Schafe und Lämmer und Ziegen und Zicklein einander hüten, Hüseyin und Mehmet hüten die Kühe, Sayit und Zehra die Ziegen, Yıldız die Schafe. Ich hüte die Lämmer.“ Beginn des Romans „Blauschmuck“.

Wir Kinder sind eine Herde. Das Heu ist unser Bett. Geruch von geschnittenem Sommer. Wir liegen querund übereinander. Wer weiß schon, wem dieser Fuß oder jene Hand gehört. Mutter? Wir atmen tief. Wir riechennach dem vergangenen Tag. Nach Schweiß, nach Sonne. Wir furzen einander ins Gesicht. Ich höre sagen, wir Kinder sind zehn. Ich höre sagen, ich bin die siebte. Wie eine Kuh wirft meine Mutter ihre Kinder, eines nach dem anderen, zwischen Saat und Ernte und Saat. Dick und schwer steht sie in der Mittagshitze und wendet das Heu. Zwischen zwei Ballen fällt ihr dann ein Kind aus dem Schoß. Einmal Mädchen, einmal Junge, einmal Mädchen, einmal Junge, einmal Mädchen, einmal Junge, wie Perlen auf der Schnur.

Nur einmal kam Junge nach Junge, aber der starb weg, und dann kam gleich ein Mädchen. Es gibt noch andere Kinderherden auf unseren Hügeln. Wir heißen Aliye, Hüseyin, Fatma, Mehmet, Yıldız, Ali, Filiz, Sayit, Zehra, Remzi, Selin, Veli. Ziegen, Zicklein, Schafe, Lämmer, Kinder, Kühe, Kälber, Esel, Pferd. Wir alle sind Herde und Hirten zugleich. Wir hüten einander. Nähren einander und schlagen einander in die Flanken. Mutter behütet uns vor Vater, Vater behütet uns vor den Wölfen, wir Kinder hüten einander, wie die Schafe und Lämmer und Ziegen und Zicklein einander hüten, Hüseyin und Mehmet hüten die Kühe, Sayit und Zehra die Ziegen, Yıldız die Schafe.

Ich hüte die Lämmer.

Wölfe kommen über den Hügel geflogen, einer nach dem anderen, sechs, sieben, ein Rudel. Sie stürzen sich auf die Schafe, die Zähne voran, zerfetzen die Beute, Gedärme und Mägen voll Gras, reißen sich gegenseitig das Fleisch aus dem Maul, zitternde Gerippe tänzeln zwischen den Gerissenen.

Fressen.

Die Wölfe fressen die Schafe. Sie weiden sie aus. Sie wühlen in den Gedärmen. Lunge, Darm, Leber, Milz, Herz. Das Sterben ist rot. Blut auf weißer Wolle. Blut auf grüner Wiese. Blutspuren, Blutschlieren, tropfendes, fließendes, strömendes Blut.

Als sich das Wolfsrudel zurückzieht, kommen die Fliegen. Schwarze Wolken über den Toten. Zwischen den Schafen steht plötzlich Yıldız. Ihr schwarzer Zopf tropft, noch nass vom Spielen am Bach. Vater wird mich erschlagen! Vater wird mich erschlagen! Und: Filiz! Filiz!

Als ob ich wüsste, was zu tun ist. Ich spüre hinter mir: Vater. Sehe ihn in Yıldız' Gesicht. Er läuft den Hügel herauf, hebt seine gegerbten Hände und schreit verzweifelt: Allah! Auf dem Schlachtfeld liegen der Tee, der Zucker, das Salz für die Tiere, liegen die Kleider für das kommende Jahr.

Vater ruft nach den Söhnen. Hüseyin und Mehmet laufen herbei und fluchen und klagen: Allah! Dann werfen sie die Kadaver auf Schubkarren. In Schubkarren holpern die Toten zurück in den Stall.

Yıldız ist verschwunden. Der Rest der Familie versammelt sich im Stall, nimmt die Tiere aus. Mutter jammert über die blutbefleckte Wolle, die sie nicht mehr weiß waschen oder färben kann.

Ins Gebüsch gedrängt, wie ein Hase

Als es dunkel wird, sucht Vater nach Yıldız. Drohend läuft er durch den Stall und über die Weide. Yıldız hat sich ins Gebüsch gedrängt, wie ein Hase. Als Vater sie entdeckt, läuft sie davon, hetzt über die Weide, über die Hügel, in die Wiesendunkelheit und flüchtet sich auf einen Baum.

Vater droht in die Zweige, versucht zu klettern, fällt, flucht, fällt. Es dämmert, als Vater zurück zum Haus geht, in sein Bett. Dort schläft Mutter. Mit offenen Augen. Sie wartet, bis Vaters Atem tief ist und ruhig, dann wagt sie sich zu dem Baum. Sie reicht Yıldız Essen in die Zweige: Bleib, wo du bist.

Von meinem Nachtlager sehe ich die Schwester zwischen den Zweigen in der mondhellen Nacht. Am nächsten Tag gibt es gebratenes Schafsfleisch. Wir teilen unser Fleisch mit den Wölfen. Wenn Vater das Haus betritt, kommt mit ihm die Stille. Wir erheben uns, unsere Augen sprechen sich ab, Yıldız rückt einen Stuhl hinter Vater, Fatma zieht ihm die Jacke von den Schultern, ich eile in die Küche zum Fass, schöpfe Wasser in eine Schüssel, drei Kellen. Fatma hockt vor Vater, hat seine Schuhe aufgebunden, zieht den rechten Schuh von der Ferse, ich hocke mich neben sie und nehme den linken, Vaters Fuß ist feucht und warm. Ich tauche ihn ins kühle Wasser und wasche den Tag von seiner Sohle. Zehra reicht mir das Handtuch, ich reibe den Fuß trocken und lasse ihn aus meiner Hand in die Sandale gleiten.

Mutter hat gebacken. Es gibt Fladenbrot mit Bohnen und Käse und frischem Ayran. Beim Essen sitzen wir stumm. So wie Vater uns will.

Die Ehre steht über allem, sagt Vater.

Der Ehre entsteigt die Sonne.

Die Ehre lässt uns ruhig schlafen.

Wir atmen sie. Ein und aus.

Nachts und während des Tages.

Die Ehre muss auf unseren Feldern gedeihen.

Wir essen sie, und die Frauen säugen ihre Kinder damit.

Die Ehre ist meinem Vater das Wichtigste. Wichtiger als wir Kinder. Oder Mutter. Die Ehre steht über allem, sagt Vater. Die Ehre wächst mir über den Kopf.

Wir haben sechs Gärten. Es gibt Kartoffeln, Zwiebeln, Gurken, Tomaten und Paprika, Bohnen und grünen Salat, Mais und Basilikum, Melonen, Kichererbsen und Kraut. Äpfel, Birnen, Marillen, Maulbeeren, Pflaumen, Weintrauben. Unser Grund ist steinig. Der Nachbargarten ist größer und üppiger. Das Obst des Nachbarn gehört uns, sagt Mutter, Großvater hat es gepflanzt. Als Vater jung war, riefen die Nachbarn einen Amtmann aus Kiğı und erklärten den Garten zu ihrem Eigentum.

Vater saß an ihrem Tisch und nickte stumm in die Gesichter der vier Nachbarsöhne. Vater hatte keine Brüder, also waren sie das Gesetz. Der Amtmann vermaß das Grundstück und protokollierte, was man ihm diktierte. Danach füllten die Nachbarn die Gläser und tranken mit Vater auf die gute Nachbarschaft. Wenn die Maulbeeren im Nachbargarten rot sind, stehlen wir Kinder unser Eigentum zurück, und der süße Saft rinnt uns übers Kinn. Was wir nicht essen können, sammeln wir in Körbe und bringen es Mutter. Wir trocknen den Sommer, lagern ihn im Keller und essen ihn im Winter.

Den Bach teilen wir mit den Nachbarn. Für uns fließt er neun Tage im Monat. Die anderen Tage leiten ihn die Nachbarn auf ihre Felder und in ihre Gärten. Wir warten dann auf den Bach. Lange bevor er kommt, höre ich sein Rauschen. Eines Morgens legten wir den Holzhebel um und warteten. Der Bach kam nicht. Das Grün des Gartens war brüchig. Mit trockenem Gaumen gingen Hüseyin, Fatma und ich das staubige Bachbett bergauf. Die Nachbarn weiter oben hatten den Bach gestohlen und in ihren Garten geleitet. Ihre Tomaten waren abendrot. Als wir es Mutter erzählten, wurde sie zur Furie, keuchend stapfte sie über die braunen Wiesen nach oben, ihr Gezeter trieb die Nachbarin aus dem Haus, die Flüche rollten talwärts. Mein Vater hastete aus dem Stall, über den Hügel nach oben, um seine Ehre zu retten. Hinter dem Hügel tauchte Aylin auf, die Diebestochter, ich winkte, sie winkte zurück.

Tage später plauderten Mutter und die Nachbarin in unserer Küche, als gäbe es Wasser genug. Menschen sind bei uns rar. An heißen Tagen schlafen wir im Freien. Sieben Kinder auf heugefüllten Matratzen. Fliegenschwärme belagern unsere Münder und Augenwinkel. Mutter macht ein Feuer und verbrennt getrockneten Kuhdung. Mit ihrer Schürze treibt sie uns den Rauch ins Gesicht. Das vertreibt die Fliegen, sagt sie. Sayit wedelt mit seinen Füßen vor meinem Gesicht. Die stinken nach Kuhdung, lacht er, das vertreibt auch die Fliegen.

Schlaft! Mutters Stimme fällt auf sein Gekicher, wir müssen früh aufstehen, es gibt Arbeit genug. Hinter dem Rauch funkeln die Sterne. Der hellste gehört mir.

In unserem Tal leben hundert blaue Frauen. Es gibt hellblaue Frauen wie Neclas Mutter und dunkelblaue Frauen wie die Mutter von Fidan, es gibt blau-rote Frauen und blau-schwarze. Es gibt Frauen, die ihr Blau um den Hals tragen wie einen Reif oder in der Vertiefung unter dem Hals wie ein Medaillon, manche tragen ihr Blau als Armband um das Handgelenk, manche um ihre Fesseln. Viele Frauen wechseln den Blauschmuck von Woche zu Woche, einige von Tag zu Tag. Manche lächeln immerzu trotz ihres Blauschmucks, wie Leyla, manche schweigen in Blau, wie Zehra.

Hellblaue Frauen werden zu dunkelblauen, blau-rote zu blau-schwarzen. Dunkelblaue werden auch zu hellblauen, aber das ist selten, und Frauen, die Blau-Schwarz tragen, wie Ayşe, geben die schwere Farbe nicht mehr her. Es gibt Frauen, deren Blauschmuck niemand kennt, Frauen, die ihn verbergen unter langen Kleidern, unter Tüchern, blaue Mädchen meist, wie Elif und Selin, die ihr Blau noch unsicher tragen wie einen ersten Lippenstift.

Die Handschrift der Männer

Der Blauschmuck der Frauen trägt die Handschrift der Männer. Das Werkzeug, Holz oder Eisen, und die Anzahl der Schläge bestimmen den Blauton. Die blauen Frauen tragen die Farbe des Himmels. Wolkendurchzogener Sommerhimmel, eisiger Winterhimmel, unsteter Frühlingshimmel, grauer Herbsthimmel, Dämmerung, Regenbogen. Nur Songül ist himmellos und ohne Blau. Wo sie auftaucht, verstummt das Gespräch. Was soll man reden mit der Himmellosen.

Mit makelloser Haut spaziert sie durchs Dorf. Die Frauen wenden sich ab, kein Wort, kein Gruß an die Himmellose. Sieh sie dir an!, sagt meine Mutter und streicht mir mit ihrer blau-schwarzen Hand übers Haar, weder klug noch fleißig. Und trotzdem: nicht ein blauer Fleck! Solche gibt's auch, sagt sie, leider. Wenn ich groß bin, werde ich eine blaue Frau. Ich hoffe auf einen Blauton, hell wie der Winterhimmel.

Mutter glaubt, dass ich sechs Jahre alt bin, Yıldız meint, sogar schon sieben. Groß bin ich, das kann jeder sehen, groß genug, um zu hüten: die Lämmer, meine Schwester Selin und meine Jungfrau. Die Lämmer kenne ich gut. Ich weiß, was sie fressen und trinken. Selin kenne ich gut. Ich weiß, dass sie lacht, wenn ich mit einer Mohnblume über ihre Stirn streiche. Meine Jungfrau kenne ich nicht. Aber sie wohnt in mir, und ich darf sie nicht verlieren. Ich muss sie schützen und mein Leben für sie geben, wenn es nötig ist, sagt Vater. Dass ich keinen Kaugummi kauen darf, das weiß ich. Aylin ist von einem Kaugummi, den ihr Onkel aus der Stadt gebracht hat, schwanger geworden. Zitrone, sagt Yıldız, darf ich auch nicht essen, sie färbt die rote Jungfrau weiß.

Nachts lag ich schon wach und hatte Angst, dass im Eintopf der Nachbarn Zitrone war. Ich fürchte mich vor der Dunkelheit, denn Dunkelheit schwängert. Besonders die Dunkelheit im Wald und auf der Wiese. Die Dunkelheit im Tal. Und das Fenster in der Küche steht nachts offen! Ich weiß nicht, wo die Dunkelheit der Wiese endet und die Dunkelheit unseres Hauses beginnt. Fließt die Dunkelheit der Wiese durch das Fenster der Küche und weiter durch den Flur bis in meine Kammer? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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