Es geht immer weiter. Aber wie?

Weltwirtschaftskrise? Für einen Sechzigerjahre-Schnösel wie mich jahrzehntelang ein Abstraktum. Mittlerweile hat meine Vorstellung davon viel an Konkretheit gewonnen: dank des hervorragenden Anschauungsunterrichts, den die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise bietet. Eine Polemik.

Mit 16 rumorte es in mir gewaltig. Ich hatte gewisse Ahnungen: Vor meiner Geburt muss ein großer Krieg stattgefunden haben, davor Weltwirtschaftskrise und, aus dem Nichts kommend, Hitler; Hitler da, Hitler dort, immer wieder Hitler. Alles weit weg, nicht fassbar, nicht in meinem Bewusstsein.

Mir fehlte die Erfahrung. Ich frönte in den Sechzigerjahren nämlich jenes unbeschwerten, viel besungenen Lebens aus George Gershwins Lied „Summertime“: „Summertime, / And the livin' is easy / Fish are jumpin' / And the cotton is high / Oh, Your daddy's rich / And your mamma's good lookin' / So hush little baby / Don't you cry.“

Weltwirtschaftskrise? Ein Abstraktum, eine Worthülse bloß. Mein Vater saß im Vorstand der Steyr-Daimler-Puch-AG, meine Mutter liebte Peter-Alexander-Filme, und ich liebte den Lateinunterricht bei Professor Nowak. Hitler? Über den redete bei uns zu Hause niemand, aber auch in der Schule nicht. Und der große Krieg? Der Krieg ist vorbei. Nie wieder Krieg, hieß es von allen Seiten, das Wort Krieg buchstabierte man ausschließlich in der Vergangenheitsform.

Ein paar Jahre später, als ich an meiner Dissertation über die kommunistische Gewerkschafspolitik in der Zweiten Republik arbeitete, erzählte mir Egon Kodicek, der einstige Gewerkschaftssekretär, von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf seine Existenz: „Ich war Schuhfacharbeiter, ein hoch angesehener Beruf.“ In der Weltwirtschaftskrise habe er diese Stellung verloren und sich fortan mit dem Straßenverkauf von Schuhbändern – „Schuachbandeln“, sagte er abfällig – durchgeschlagen.

Mit dieser Anekdote setzte bei mir die allmähliche Schärfung des Begriffs „Weltwirtschaftskrise“ ein. Die Krise bewirkt immer, dass Menschen, ohne dass sie etwas dafür können, ihre Würde verlieren. Sie bewirkt paradoxerweise das Entstehen mannigfaltiger Betätigungsfelder, löst ein ziel- und perspektivloses Herumrurcheln im Stich gelassener Einzelmenschen aus, die in kürzester Zeit, ohne es bewusst mitzukriegen, im Prekariat landen und in den meisten Fällen nicht mehr zurückfinden. Sie bleiben oft unverheiratet und kinderlos.

Mittlerweile ist mein Begriff Weltwirtschaftskrise reich an Facetten, dank des hervorragenden Anschauungsunterrichts der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise, die sich naturgemäß noch nicht auf eine Kurzformel wie die von 1929 – Krise–Hitler–Krieg – bringen lässt. Ganz nah ist sie, kein Abstraktum mehr und weit weg wie für mich arroganten Sechzigerjahre-Schnösel, auf Grund ihrer Nähe noch verschwommen, ganz und gar uneinheitlich und undurchschaubar, weil ständig neue Gefahrenmomente ins Spiel kommen. Heute zum Beispiel kann ich mir zum ersten Mal wirklich vorstellen, dass sich ein Verlierer ganz gleich aus welchem Land hinsetzt und ein Buch wie „Mein Kampf“ schreibt. Erstauflage als E-Book 500. Oder noch besser, vielleicht zirkulieren schon viele von der gegenwärtigen Krise inspirierte Texte „Mein Kampf – Neue Folgen“ im Netz, und ich habe sie nur noch nicht bemerkt oder kann die Sprache nicht, in der sie geschrieben sind, Russisch zum Beispiel.

Ich erlebe die Krise hautnah. Meine beiden Kinder sind arbeitslos, unverheiratet und kinderlos. Die Firmenanteile, von denen sie und ihre Mutter, meine Exfrau, leben wollten, werfen nicht mehr viel Gewinn ab. Neulich habe ich wieder einmal einen Bericht über Spanien und den Erfindungsreichtum junger Spanierinnen und Spanier gesehen, sich über Wasser zu halten. Eine Gruppe junger Menschen hat sich zu einem Zirkuskollektiv zusammengeschlossen und mit dem Üben begonnen. Keulen werfen, gewagte Sprünge, Menschenpyramiden, solche Sachen; eine junge Frau ist von der Stadt zurück aufs Land gezogen, um im Garten ihrer Eltern Gemüse anzubauen und mit einem klapprigen Auto an alte Menschen auszuliefern, die nicht mehr selbst einkaufen fahren können.

So weit diese Aspekte. Irgendwie geht es immer weiter, damals, wie heute. Von damals wissen wir, wie: Weltwirtschaftkrise–Hitler–Krieg; wie es heute weitergehen wird, wissen wir nicht, weil sich die Geschichte nicht wiederholt.

Die Menschen sind jetzt wieder einmal mitten in der großen Umstellung, wie zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs, wie zu Zeiten der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege oder wie in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts. Die Umpolung verläuft stetig von Frieden in Richtung Krieg. Nebenbei gesagt kann ich mich heute sogar in jene hineinfühlen, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs frenetisch bejubelt haben und sofort an die Front geeilt sind. Solche wird und muss es immer geben bei all dem Kuddelmuddel, den Ängsten, dem Verlust an Sicherheit, der Vertreibung von den Lieblingsplätzen der Geborgenheit.

Die Krise ist so gravierend, dass kein Weg mehr zurückführt. Die Ordnungen, die teilweise mehr als hundert Jahre gehalten haben, brechen zusammen, Fanatismus, Gewalt, Bürgerkriege sind die Folge, Europa taumelt, populistische Provinzpolitiker versuchen mit untauglichen Mitteln zurückzurudern. Das Wahlvolk spürt, es wird nicht reichen. Der große Unterschied zur Entwicklung der Dreißigerjahre: Ein Antipode, ein Bollwerk wie die Sowjetunion existiert nicht mehr, darüber hinaus scheint sich die revolutionäre Linke gänzlich aus der Geschichte verabschiedet zu haben. Die Völker scheinen ihr Heil in sogenannten rechten Revolutionen zu suchen, ein Begriff, der leider wieder ausgebuddelt werden muss. Politische Ausrichtungen wie jene von ÖVP, CSU, CDU, allgemein von „Christlich-Demokratisch“, scheinen vielen Menschen, vor allem jungen Männern, nicht mehr zu reichen.

Nun zu den globalen Aspekten der Krise. Diese entnehmen Sie bitte den täglichen Nachrichtensendungen auf Ö1, nicht jedoch dem Fernsehformat „Niederösterreich heute“, denn in diesem glücklichen Landstrich gibt es keine Krise, folglich muss man darüber nicht reden, sie nicht einmal schönfärben und auf gar keinen Fall über sie nachdenken. ■


Peter Zakravsky, Wiener des Jahrgangs 1952, studierte Rechtswissenschaften, Philosophie, Publizistik und Politologie in Wien. Dr. phil. Mitarbeit am Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, später
22 Jahre lang Reisetätigkeit für den Suhrkamp Verlag. Lebt in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2016)

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