Wenn Zahlen zählen

So sind wir es gewohnt: In einem ersten Wahlgang wird erhoben, wer in die Stichwahl des zweiten Wahlgangs kommt. Das freilich muss keineswegs jener Kandidat sein, der jede Stichwahl gewinnen würde. Warum kein Wahlverfahren perfekt ist: Hinweise eines Mathematikers.

Paris 1793: Ein Mathematiker wird damit betraut, der jungen Republik eine Verfassung zu geben. Ein Mathematiker? Auf den ersten Blick scheint das zu den Verstiegenheiten einer Epoche zu gehören, die alle Kathedralen in „Tempel der Vernunft“ verwandeln will. Bei näherem Hinsehen erweist sich aber, dass dieser Mathematiker, der Marquis von Condorcet (1743–1794), für seine Aufgabe geschaffen ist wie kein anderer. Dass es bös enden wird, steht auf einem anderen Blatt.

Der Marquis war als Waisenkind in beengten Verhältnissen aufgewachsen. Er machte sich früh in der Wissenschaft einen Namen. Bald war er korrespondierendes Mitglied der preußischen und Ehrenmitglied der russischen Akademie und wirkliches Mitglied der französischen Académie des Sciences – sogar ihr „sécrétaire perpetuel“.

In Akademien wird gern und oft gewählt, und die kniffligen Aspekte solcher Abstimmungen mögen Condorcet veranlasst haben,von der Himmelsmechanik auf die „politische Arithmetik“ umzusatteln. So begründete er eine neue Wissenschaftsdisziplin: „les mathématiques sociales“, wie er sie nannte. Heute ist die Sozialmathematik ein riesiges Gebiet. Es umfasst Entscheidungs- und Spieltheorie, Demografie, Versicherungsmathematik und vieles mehr. Doch im 18. Jahrhundert war es ausgesprochen revolutionär, die Mathematik auf etwas anderes als Physik oder Astronomie anzuwenden. Dabei begnügte sich Condorcet keineswegs mit bloßer Theorie. Er war, als Galionsfigur der Aufklärung, ein durch und durch politischer Kopf, enger Gefährte von Voltaire und Turgot, befreundet mit Benjamin Franklin, Tom Paine und Thomas Jefferson, lauter Experten punkto Verfassung. Mit der Zeit wurde der Marquis kompromissloser als sie alle. Ja, er trieb es so weit, das Wahlrecht für Frauen zu fordern und die Abschaffung der Sklaverei. Zum Dank nannte man ihn „le mouton enragé“, das tollwütige Schaf – weil er so herzensgut war und so radikal.

Die Französische Revolution stellte den Höhepunkt von Condorcets Leben dar. Er, der letzte Enzyklopädist, wurde zum ersten Republikaner. Bis zum Präsidenten der Nationalversammlung brachte er es. Doch an die Stelle seiner Verfassung kam eine nach dem Geschmack Robespierres. Condorcet war so dreist, Einwände zu erheben, und musste umgehend vor der Terreur fliehen. Er konnte sich neun Monate lang in Paris verstecken, wurde aufgespürt, verkroch sich wie ein gehetztes Wild in den Steinbrüchen von Clamart und starb am Tag nach seiner Verhaftung aus ungeklärten Gründen.

Was hatte Condorcet mit seiner „politischen Arithmetik“ entdeckt? Zunächst einmal, dass ein Kandidat, der jede Stichwahl gewinnen würde, nicht in die Stichwahl kommen muss. Genauer: in dem zweistufigenVerfahren, das uns in Österreich von Präsidentenwahlen her vertraut ist (und das in Frankreich 1789 eingeführt wurde, wo es seitdem fünf Republiken prägte), wird in einem ersten Wahlgang erhoben, wer in die Stichwahl des zweiten Wahlgangs kommt. Und das muss eben nicht der sogenannte Condorcet-Sieger sein, also jener Kandidat, der jede Stichwahl gewinnen würde. Und der übrigens auch weiblich sein darf – wie vermutlich in Österreich kürzlich der Fall.

Condorcets simples Beispiel: drei Kandidaten A, B und C. Fünf Wähler reihen A vor B, und B vor C; vier reihen B vor C und C vor A; drei reihen C vor B und B vor A; und sonst wählt niemand. Im ersten Wahlgang entfallen auf A somit fünf Stimmen, auf B vier und auf C drei. Im zweiten Wahlgang, der Stichwahl zwischen A und B, gewinnt B, denn alle C-Anhänger wählen jetzt B.Doch der Wahlsieg von B steht auf tönernen Füßen. Denn C war zwar nichtzur Stichwahl zugelassen, hätte aber gegen A mit 7:5 und gegen B sogar mit 8:4 gewonnen! Überzeugender wäre es wohl, den Condorcet-Sieger zu küren. Dazu bedarf es nicht dreier Stichwahlen (bei drei Kandidaten) oder zehn Stichwahlen (bei fünf). Ein einziger Wahlgang genügt, bei dem allerdings auf jedem Stimmzettel alle Kandidaten gereiht werden müssen, und nicht nur einer angekreuzt. Daraus folgt sofort das Resultat jeder Stichwahl.

Und doch hat das Verfahren einen Pferdefuß, wie Condorcet zu seinem Leidwesen bemerkte: Es braucht gar keinen Condorcet-Sieger zu geben! Es kann sein, dass A die Stichwahl gegen B gewinnt, B gegen C und C gegen A. Ein Zyklus wie bei Stein-Schere-Papier! Das war ein Schock. Condorcet und die anderen Denker der Revolution waren ganz von Rousseaus Ideen beherrscht. Demnach soll der Wille des Volkes entscheiden, „la volonté commune“. Dieser „Gemeinwille“ war ein sakrosankter Begriff – und stellte sich nun als Gedankenblase heraus. So geht es manchem sakrosankten Begriff.

Heute sehen wir das Ganze gelassener. Die Demokratie ist uns nicht eine Heilsbotschaft in unerreichbarer Ferne, sondern schlicht das kleinere Übel. Laut Karl Popper genügt es, wenn eine schlechte Regierung abgewählt werden kann. Wahlen müssen nicht die „richtige“ Entscheidung treffen, was immer man darunter verstehen mag – es reicht, wenn jede Entscheidung bei der nächsten Wahl revidiert werden kann. Und übrigens umgibt den Gemeinwillen von Rousseau heutzutage ein Hauch von Populismus, dem gängigsten Schmähwort unserer Zeit. Aber damals, vor einem knappen Vierteljahrtausend, war die Entdeckung, dasses die „volonté commune“ gar nicht gibt (oder zumindest nicht immer geben muss), ausgesprochen subversiv.

Zu allem Überfluss trat nun Condorcets wissenschaftliche Nemesis auf den Plan, JeanCharles de Borda (1733–1799), ebenfalls ein eminenter Mathematiker und Astronom, ebenfalls Mitglied der Académie des Sciences und zusätzlich noch Mann der Tat: Seeoffizier, Forscher, Teilnehmer am amerikanischen Befreiungskrieg, Erfinder von Navigationsgeräten, auf dem rauen Atlantik mehr zu Hause als in den Salons.

Borda sagte: Jede Wahl, die sich aufs Ankreuzen des Erstgereihten beschränkt, ist eine halbe Sache. Wir können dabei nicht mitteilen, was wir von den anderen Kandidaten halten. Daher sollten Wähler auf ihren Stimmzetteln alle Kandidaten reihen. Der Erstgereihte kriegt einen Punkt, der Nächste zwei, der dritte drei . . . Für jeden Kandidaten zählt man dann die Punkte zusammen. Wer die wenigsten Punkte hat, ist Borda-Sieger und gewinnt die Wahl.

Zugegeben, das Verfahren ist komplizierter,als die Kreuzchen auf den Stimmbögen zu zählen. Man denkt mit Bangen daran, wie unsere Wahlbehörde damit zurechtkäme. Aber die Methode kommt oft zum Einsatz, wenn Jurys abstimmen – etwa beim Eurovisionssongcontest.

Bordas Verfahren liefert eine Entscheidung auch dann, wenn es einen Condorcet-Zyklus gibt. Allerdings: Wenn es keinen Zyklus gibt, sondern einen klaren Condorcet-Sieger, so muss der nicht der Borda-Sieger sein. In obigem Beispiel ist er es, aber das gilt nicht immer. Außerdem verlockt das Verfahren, unfair zu wählen – etwa indem man einen Kandidaten, der dem eigenen gefährlich werden könnte, ganz ans Ende des Stimmzettels reiht. Als man Borda darauf aufmerksam machte, nickte er und meinte, sein Verfahren sei eben für anständige Menschen gedacht.

Auch heute noch dominieren die beiden Schulen von Borda und Condorcet das inzwischen gewaltig gewachsene Gebiet der Wahlarithmetik mit seinen Dutzenden von intensiv diskutierten Verfahren. Eine Pattstellung zwischen den alten Rivalen! Immerhin, Borda hatte die Genugtuung, dass die Académie des Sciences sein Verfahren für die Zuwahl ihrer Mitglieder übernahm. Allerdings änderte sich das im Jahr 1801. Da wurde Napoleon Bonaparte Präsident der Akademie, und der hatte naturgemäß seine eigenen Ideen über den richtigen Wahlmodus.

Was uns mit einem Satz in die Mitte des vorigen Jahrhunderts führt – und zum „Diktator-Theorem“. Damit stellte der junge Amerikaner Ken Arrow die Sozialwahltheorie auf den Kopf, was ihm 1972 den Wirtschafts-„Nobel“ einbrachte. Statt dieses oder jenes Wahlverfahren zu analysieren, betrachtete Arrow alle denkbaren Verfahren in einem Aufwaschen und zeigte: Keines ist perfekt. Schlimmer noch, keines ist auch nur halbwegs befriedigend, sobald mehr als zwei Möglichkeiten zur Wahl stehen. Was heißt „halbwegs befriedigend“? Nun, es geht darum, aus den individuellen Rangordnungen der Wähler eine kollektive Rangordnung zu finden, das Endergebnis der Wahl. Und das Verfahren soll Kopf und Fuß haben. Also erstens: Zyklen soll es im Endergebnis keine geben. Zweitens: Wenn alle Wähler A vor B reihen, soll auch im Endergebnis A vor B liegen. Und drittens: Ob im Endergebnis A vor B liegt, soll nicht davon abhängen, wie C abschneidet.

Bescheidene Ansprüche an einen Wahlvorgang. Doch Arrow zeigte: Sie sind unerfüllbar. Genauer gesagt, es gibt nur eine Methode, sie zu erfüllen: nämlich, dass ein Einzelner für alle entscheidet, also seine Präferenzen als Endergebnis anerkannt werden. Das ist nicht, was wir unter einer demokratischen Wahl verstehen. Arrows „Unmöglichkeitssatz“ heißt daher auch „Diktator-Theorem“. Der eine Wähler, der für alle entscheidet, ist der Diktator. Napoleon lässt grüßen.

Da die scheinbar so harmlosen Ansprüche an ein befriedigendes Verfahren nicht gemeinsam erfüllt werden können, muss einer davon über Bord gehen. Aber welcher? Am verzichtbarsten dürfte die dritte Bedingung sein. Bei einer individuellen Rangordnung erscheint sie beinahe selbstverständlich. Das übliche Beispiel: Nehmen wir an, dass fürs Mittagsmenü Pasta oder Huhn angeboten werden, und der Gast nach längerem Hin und Her Huhn wählt. Nun erwähnt der Kellner, dass es heute auch Fisch gibt. Worauf der Gast ruft: „Aber das ändert ja alles! Dann wähle ich . . . Pasta!“ Das scheint kurios. Eine neue Möglichkeit C kommt dazu, gewinnt nicht, aber dreht die Rangordnung der bereits bestehenden Alternativen A und B um.

Weniger kurios scheint das für eine kollektive Rangordnung, also für das „Endergebnis“. Wenn in der politischen Arena eine neue Partei auftaucht, kann das sehr wohl die Rangordnung der bisherigen Parteien im Endergebnis ändern, selbst dann, wenn die neue Partei an letzter Stelle landet.

Auch an Condorcet-Zyklen hat man sich gewöhnt. Man kann für solche Fälle das Wahlverfahren ergänzen: etwa indem man das am wenigsten deutliche Stichwahlergebnis ignoriert und so den Condorcet-Zyklus durchbricht. Nicht sehr überzeugend, aber es hilft aus der Sackgasse heraus – oder, besser gesagt, aus dem Kreisverkehr.

Bei individuellen Rangordnungen hingegen ist ein Zyklus schwerer vorstellbar. Ja, es gibt Sozialwissenschaftler, die den „rationalen Menschen“ geradezu definieren durch die Forderung, dass seine Präferenzen keine Zyklen enthalten. Doch experimentelle Untersuchungen zeigen, dass durchaus vernünftige Individuen in ihren Präferenzen Zyklen haben können, und ebenso, dass sie durch irrelevante Alternativen beeinflusst werden. Wir dürfen nicht erwarten, dass Kollektive rationaler sind als Individuen. Wer sich auf Demokratie einlässt, muss sich abfretten mit Verfahren, die allesamt ihre Tücken haben.

Und das ist auch schon die Moral der Geschichte. Wie einst Graf Taaffe gesagt hat, auch er Schöpfer einer Wahlrechtsreform: „Wir werden weiterwursteln.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2016)

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