Ein Kino-Meisterwerk oder polnische Propaganda?

In Polen und in der Ukraine wird heftig über den Film “Wołyń„ debattiert, der ein Massaker des Jahres 1943 zum Inhalt hat.

Das Massaker in Wolhynien (poln. Wołyń) gehört zu den in Westeuropa weitgehend unbekannten Katastrophen, die sich während des Zweiten Weltkriegs in den osteuropäischen „Bloodlands“ (Timothy Snyder) abgespielt haben. Im Sommer 1943 ermordeten ukrainische Nationalisten und ihre Mitläufer mehrere Zehntausend polnische Opfer, darunter ganze Familien.

Während der kommunistischen Herrschaft war das Thema für Historiker und Künstler tabu. Seit dem Jahr 2000 gibt es in Polen jedoch eine regelrechte Welle von Publikationen zum Massaker in Wolhynien: Augenzeugenberichte, historische Forschungen und fiktionalisierte Erzählungen.

In einem gewissen Sinne wirkte die Aufarbeitung des Massakers von Wolhynien als Antidot für die schmerzhafte Erinnerung an den Massenmord von Jedwabne im Jahr 1941, als polnische Bürger ihre jüdischen Nachbarn in einer Scheune zusammentrieben und bei lebendigem Leib verbrannten. 2001 hatte der Historiker Jan T. Gross in seinem Buch „Nachbarn“ dieses Pogrom detailliert aufgearbeitet und damit eine breite Debatte über polnische Täterschaft im Zweiten Weltkrieg hervorgerufen.

Resolution des Parlaments

Beim Thema Wolhynien erscheint das Thema der Nachbarschaft unter entgegengesetzten Vorzeichen: Die Polen sind nun nicht mehr Täter, sondern Opfer ethnisch motivierter Gewalt. Dieser Viktimisierungsdiskurs ist mittlerweile so prominent, dass er sogar das Verbrechen von Katyń überschattet – im Frühjahr 1940 waren dort Tausende von polnischen Offizieren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft hingerichtet worden.

Im Juli 2016 hat das polnische Parlament eine Resolution verabschiedet, in der das Massaker von Wolhynien als Genozid am polnischen Volk bezeichnet wird. Anfang Oktober ist nun in Polen der historisierende Film „Wołyń“ angelaufen – mittlerweile haben ihn schon über eine Million Menschen gesehen. Der Film erzählt das Massaker von Wolhynien aus der Sicht einer jungen polnischen Bäuerin, die einen ukrainischen Burschen liebt, aber von ihrem Vater an einen älteren Gutsbesitzer verheiratet wird.

Vor dem Hintergrund des Einmarsches der Roten Armee, des deutschen Überfalls, der Judenverfolgungen und des ukrainischen Partisanenkriegs zeichnet Regisseur Wojciech Smarzowski ein bildstarkes, bisweilen vor Brutalität kaum auszuhaltendes Bild der Katastrophe. Smarzowski gehört zu den wichtigsten Regisseuren in Polen – er ist bereits mit gesellschaftskritischen Filmen, etwa zur Etablierung des kommunistischen Systems in Polen nach 1945, hervorgetreten.

Auch in „Wołyń“ gelingt es Smarzowski, mit verschiedenen Kunstgriffen eine unheimliche Atmosphäre zu evozieren. So setzt er oft eine schwankende Handkamera ein, der Lauf der Bilder wird von kurzen Sprüngen unterbrochen, die Musik ist als Geräuschkulisse mit bedrohlichen Dissonanzen komponiert.

Die Rezeption des Films in der polnischen Öffentlichkeit war gespalten: Die linke „Gazeta Wyborcza“ titelte programmatisch „,Wołyń‘ ist ein großer Film“ und verglich Smarzowski mit einem Renaissancemaler, der eine kompromisslose Ästhetik für die Darstellung des Bösen gefunden habe.

Auch die konservative Wochenzeitung „Do Rzeczy“ jubelte und bezeichnete „Wołyń“ als „Meisterwerk“. Ganz anderer Meinung war das Internetportal „Kultura liberalna“, das den Film rundweg als „Kitsch des Bösen“ abkanzelte. Es handle sich nicht um eine Aufarbeitung der historischen Vergangenheit, sondern um eine heutige Interpretation, die den Opfern einen Bärendienst erweise.

Hyperrealistische Darstellung

Überhaupt stellte die hyperrealistische Darstellung des Massakers einen wichtigen Diskussionspunkt in der Öffentlichkeit dar. Besonders abstoßende Szenen wie die Segnung von Sensen, Äxten und Heugabeln durch einen ukrainischen Priester, die Verbrennung eines Kindes in einer Heugarbe, die Enthauptung einer Mutter, das Auseinanderreißen des Körpers eines polnischen Offiziers durch zwei Pferde oder das Ausweiden eines Opfers bei lebendigem Leib riefen polnische Historiker auf den Plan.

Dabei standen sich Experten, die diese Gräueltaten im Wesentlichen für zutreffend hielten, skeptischeren Stimmen gegenüber, die das Fehlen direkter Beweise monierten. Der ukrainische Historiker Andrij Portnow forderte, das Massaker von Wolhynien im Kontext anderer ethnischer Säuberungen während des Zweiten Weltkriegs zu untersuchen.

Außerdem, so Portnow, dürfe man sich nicht ausschließlich auf Augenzeugenberichte stützen, sondern müsse auch deutsche Quellen heranziehen. Denn das Verbrechen ereignete sich nicht in einem polnischen oder ukrainischen Staat, sondern im Reichskommissariat Ukraine. Schließlich müsse vermehrt auf archäologische Forschungen gesetzt werden – viele der Tötungsorte sind nach wie vor unerforscht.

„Schule des Hasses“

Nach der Genozid-Resolution des polnischen Parlaments belastet der Film „Wołyń“ die ohnehin angespannten polnisch-ukrainischen Beziehungen zusätzlich. Es wäre naiv anzunehmen, dass die Zuschauer in Polen von der historisierenden Darstellung keine Schlüsse auf die Gegenwart ziehen. Besonders der Schlachtruf der nationalistischen Mörderbande „Ruhm der Ukraine, Ruhm den Helden!“, der mehrfach in dem Film erschallt, war auch eine Losung des Euromaidans, an dem rechtsradikale Kräfte beteiligt waren.

Eine direkte kausale Verbindung zwischen dem Massaker in Wolhynien und dem Euromaidan ist natürlich abwegig. Sie erhält aber durch die Drastik der Filmerzählung durchaus Nahrung. Ukrainische Schriftsteller und Intellektuelle haben deshalb die Einseitigkeit von Smarzowskis Film kritisiert und ihn als „Schule des Hasses“ bezeichnet.

Die Rezensentin der „Ukrainska Prawda“ beispielsweise anerkannte zwar die künstlerische Qualität des Films, wies aber auch darauf hin, dass „Wołyń“ genau dem martyriologischen Geschichtsbild der polnischen Regierung entspreche. Positiv wertete sie die Tatsache, dass polnische Nationalisten nun nicht mehr behaupten können, das Thema Wolhynien werde absichtlich aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt.

Negatives Bild der Ukrainer

Das polnische Kulturinstitut in Kiew hat nach einer Empfehlung des ukrainischen Außenministeriums auf eine Vorführung von „Wołyń“ verzichtet, weil Proteste zu befürchten waren. In der Tat zeichnet der Film oft ein sehr negatives Bild der Ukrainer – sie werden als blutrünstige Bestien oder opportunistische Wendehälse dargestellt, die den Bolschewiken und Nazis gleichermaßen ihre Willkommensgrüße entbieten.

Immerhin endet „Wołyń“ mit einer Traumszene, in der die polnische Heldin mit ihrem ukrainischen Geliebten und dem gemeinsamen Sohn in die Weite der wolhynischen Landschaft fährt. Allerdings ist ungewiss, ob nicht alle zu diesem Zeitpunkt schon tot sind.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Ulrich Schmid
(*1965 in Zürich) ist Professor für osteuropäische Kulturgeschichte an der Universität St. Gallen. Er leitet ein internationales Forschungsprojekt zum ukrainischen Regionalismus. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“ (Suhrkamp Verlag 2015). [ Uni St. Gallen ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2016)

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