Darf's ein bisserl weniger sein?

Ich komme aus einem Elternhaus auf dem Land, einer Mühle mit Landwirtschaft und sogenannter Schwarzbäckerei. Das Problem des unverkauften Brotes wurde bei uns so gelöst, dass es den Schweinen verfüttert wurde. So entstand wundersamerweise aus Brot Fleisch. Und heute? Über Überflussgesellschaft, Agrarindustrie und Bio-Kult.

Im sogenannten Weißenburger Katechismus – das ist eine Sammlung von fünf Gebeten aus der althochdeutschen Zeit, die der Missionar kennen und bei der Christianisierung den germanischen Täuflingen nahe- und beibringen soll – ist auch ein Vaterunser, das „Herrengebet“, mit kurzen exegetischen Erklärungen. Und bei der Bitte um das tägliche Brot wird erklärt, dass Brot hier für Lebensmittel im Allgemeinen steht. Heute hört man manchmal den Ruf „Bitte Butter aufs Brot!“ – und weil wir in unseren Breiten von allem genug und zu viel haben, fragen die Lebensmittelverkäufer in den Fleischhauereien und Supermärkten gern: Darf's ein bisschen mehr sein?

Die Widersprüche unserer Überfluss- und Wohlstandsgesellschaft sind besorgniserregend, manchmal „himmelschreiend“. Wenn etwa das unverkaufte Brot der Lebensmitteldiskonter nach Geschäftsschluss „entsorgt“ werden muss, statt es an Bedürftige zu verschenken. Urassen hätte man dies wahrscheinlich früher genannt. Die Frage könnte lauten: Darf's ein bisserl weniger sein?

Nun gibt es ja immerhin vernünftige soziale Bestrebungen in Richtung „Versorgen statt Entsorgen“, „Verwerten statt Entwerten“. Ich komme aus einem Elternhaus am Land, einer Mühle, Landwirtschaft und sogenannten Schwarzbäckerei. Schwarzbäcker hießen jene Müller, denen durch ein Patent der Kaiserin Maria Theresia erlaubt war, Hausbrot oder Schwarzbrot zu erzeugen und zu verkaufen. Schwarz bedeutet also hier nicht illegal oder ungesetzlich. Ein gewisser sachlicher Widerspruch lag darin, dass dieses „Schwarzbrot“ relativ hell war. Das kam vom zugesetzten Weizenmehl. Weißbrot und Semmel waren den zünftigen Bäckern vorbehalten.

Das Problem des unverkauften Brotes wurde bei uns daheim so gelöst, dass es in Bottichen eingeweicht und schließlich den Schweinen verfüttert wurde, die sich daran gütlich taten. So entstand in gewisser wundersamer Weise aus Brot Fleisch. Und was die Tiere ausschieden, kam als Dung auf die Felder, damit das Getreide wieder sprießen und Frucht bringen konnte.

Ich war im Familienbetrieb viel mit Brot beschäftigt, sei es, dass ich im „Laden“ (das war eigentlich die Wohnstube) Brot verkaufte, dass ich meine Schwester beim Ausfahren und Liefern begleitete und unterstützte oder dass ich für einen „Vorzugskunden“, den Herrn Direktor meiner Schule, des Bundesrealgymnasiums in der Welser Schauerstraße, einen Laib Brot im Autobus mitnahm.

Der Laib für den „Brotfresser“

Herr Hörmann, der Chauffeur, hat mich deshalb auch einmal gescholten, weil ich ihm seinen Autobus mit meinem noch heißen Brot „verstinke“. Hier rieche und dampfe es ja wie in einer Backstube. Und einmal sagte er auch: Schon wieder ein heißer Laib für den Brotfresser. Nein, nicht für einen Professor, für den Herrn Direktor Marschall!, erwiderte ich voll Stolz, dass ein so hochstudierter Mann unser Brot schätzte . . .

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, heißt ein zum Sprichwort gewordener Satz aus dem vierten Kapitel des Evangeliums nach Matthäus. Viele aber wissen wohl gar nicht, wie der Satz fortsetzt: . . . sondern von jedem Wort, da aus dem Munde Gottes kommt . . . Und dies ist ein „verbum ipsissimum“, also ein Wort Jesu, das er dem Versucher in der Wüste sagt. Es gibt also auch immaterielle und spirituelle Bedürfnisse . . .

Ist dies jetzt ein frommer Wunsch von Theologen oder eine unbestreitbare Wahrheit. Schrillt einem nicht das Fahnenwort Bertolt Brechts im Ohr, das er einer satten Bourgeoisie entgegenschleuderte, die den Armen Moral predigen wollte: Erst kommt das Fressen und dann die Moral! Denen, die Wasser predigen und Wein trinken? Das soziale Unverständnis der abgehobenen Aristokratie gipfelt in einem Satz, der Marie Antoinette, der Tochter der Kaiserin Maria Theresia und Gattin des französischen Königs Ludwigs XVI., boshafterweise nachgesagt wird: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen.“ Boshafterweise, wie gesagt, weil sie ihn so nie gesagt hat. Man hat ihr, der „Autrichienne“, der „Madame Deficit“, wie man sie wegen ihrer angeblichen Verschwendungssucht in Frankreich gehässig nannte, ja übel mitgespielt. Hätte sie gewusst, was sie in Frankreich erwartet, sie hätte auf dem Weg zur Hochzeit in Paris nach der Aufführung des Theaterstücks „Kurzweiliger Hochzeitsvertrag“ von Maurus Lindemayr im Lambacher Stiftstheater, sicher kehrt gemacht und wäre nach Wien zur Mutter zurückgefahren.

Wenn heute das Wort „Lebensmittel“ im Gespräch oder in einem Text erscheint, dann folgt alsbald das Wort Bio, eigentlich ein Fremdwort aus dem Griechischen, das „Leben“ bedeutet. Biolebensmittel sind so eigentlich Lebenslebensmittel. Der Verdacht liegt nicht ganz fern, dass das Wort Bio auch ein Werbemittel ist und manchmal eine inhaltsarme Behauptung, Kulturpessimisten meinen sogar, oft eine betrügerische Irreführung. Ein solcher Pessimist und Zeitgeistkritiker muss der gewesen sein, der sich als Antwort auf die Frage, warum Bioprodukte so teuer sind, diese Antwort hat einfallen lassen: weil die Biobauern den Kunstdünger in der Nacht ausbringen müssen . . .

Alles Walzer! Alles bio? Darum hat man etwa auch die alte Müllereifachschule in Wels, an die ich oft Getreideproben aus unserer Mühle zur Bestimmung des sogenannten Hektolitergewichtes gebracht habe, in eine „Höhere technische Lehranstalt für Lebensmitteltechnologie, Getreidewirtschaft und Biotechnologie“ umbenannt und umgestaltet. Biotechnologie – das Wort muss man sich wie ein Bonbon auf der Zunge zergehen lassen.

Es weiß wohl der kleinste Schrebergärtner, dass es ohne den geringsten Einsatz von giftigen Spritz- und Schädlingsbekämpfungsmitteln beim Garteln nicht geht. Schließlich gibt es jährlich einen neuen, aus Asien oder Afrika oder von sonst woher importierten Schädling, heuer etwa den sogenannten Zünsler, der uns die Buchsbaumstauden verzehrt. Wie es seinerzeit den Kartoffelkäfer gab, der von einigen als die Rache der Amerikaner für Deutschlands Übermut im Angriffskrieg angesehen wurde.

Auch die Grenze zwischen der herkömmlichen Landwirtschaft und der Agrarindustrie hat an Trennschärfe verloren. Sind Vogelgrippe, Rinderwahnsinn, Schweinepest, und wie die apokalyptischen Geißeln alle heißen, eine Antwort der Natur auf entsprechende Fehlentwicklungen? Sind dies alles weniger „Verhältnisse“ als „Verhängnisse“, sind es die zehn ägyptischen Plagen der Jetztzeit? Es ist wirklich kein Wunder, dass junge, nachdenkliche und empfindsame Menschen zu Vegetariern oder Veganern und auch zu anarchistischen Tierschützern werden oder „intrapunitiv“, wie die Psychiatrie sagt, zu sich selbst schädigenden Komatrinkern.

Was wissen wir schon von den Gepflogenheiten in den Herkunftsländern unserer importierten Lebensmittel. Sind die Produkte genmanipuliert, sind schlecht bezahlte Kinder an der Arbeit gewesen, damit wir billige exotische Früchte essen können, die um die halbe Welt gekarrt wurden?

Wir schaffen uns als Agrarland ab

Ein sarkastischer Freund mit Galgenhumor hat gemeint, wir schaffen uns als Agrarland überhaupt ab, begehen sozusagen Selbstmord, weil ja täglich Grund der Größe von 30 Fußballplätzen zubetoniert wird. Auch ich habe wie Franz Welser-Möst, Othmar Commenda, Josef Stockinger, Johanna Rachinger, Max Hiegelsberger, Tobias Moretti und Markus Hengstschläger einen Auf- und Weckruf der Österreichischen Hagelversicherung unter ihrem Generaldirektor Kurt Weinberger und der „Agrarmarkt Austria“ unterschrieben, der in den vergangenen Jahren in einigen Zeitungen geschaltet wurde: „Wenn Österreich weiter so zubetoniert wird, gibt es bald keine heimischen Lebensmittel mehr.“ Diese Initiative hat nun, was den Ernst des Anliegens anzeigt, auch der Wiener Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn unterzeichnet. Ich glaube, die Kirche tut gut daran, auch in der Frage der Lebensmittel wie ganz allgemein der Bewahrung der Schöpfung ihre Stimme zu erheben . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2016)

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