Niemand von uns ist bloß Zuschauer

Nach der Auseinandersetzung mit „Hitlers willigen Vollstreckern“ wagt sich Daniel Jonah Goldhagen an eine Theorie des systematischen Massenmords. „Schlimmer als Krieg“: ein Pionierprojekt – nicht frei von Widersprüchen.

Wenn man „Hitlers willige Vollstrecker“, Daniel Goldhagens 1996 erschienenen Bestseller über die ganz gewöhnlichen Deutschen und den Holocaust, nach dem Abklingen der Debatte nochmals liest, dann spürt man, dass der Autor schon damals über sein aktuelles Forschungsziel hinaus um eine verallgemeinerbare Theorie des Massenmordes bemüht war. Ein legitimes Projekt: Der Satz von unserer Epoche als Zeitalter des Massenmordes wurde zwar so oft wiederholt, dass er uns bei der Lektüre kaum mehr berührt, doch die Erinnerung an die Vernichtung der Hereros in Deutsch-Südwestafrika 1904, den Massenmord an den Armeniern, die systematischen japanischen Gemetzel in China, die Untaten der Gefolgsleute von Hitler, Stalin, Mao Zedong, Pol Pot und Kim Il Sung, die Massaker an den Tutsis und die laufenden Ereignisse in Darfur offenbart ein für den Zeitgenossen unerträgliches Panorama des Schreckens. Die Zahl der Getöteten ist schwer zu schätzen, doch eines kann man wohl außer Streit stellen: Massenmord und Eliminierung haben im vergangenen Jahrhundert mehr Opfer gefordert als zwischenstaatliche Kriege.

Massenmord und Eliminierung – das sind andere Begriffe als das Wort Völkermord, das im deutschen Untertitel angesprochen ist. Tatsächlich gibt es ein terminologisches Problem, an dem sich Goldhagen abarbeiten muss: Wie benennt man jene ungeheuerlichen Vorgänge jenseits von Bürgerkrieg und zwischenstaatlichen Kriegen mit der für die rechtliche Verfolgbarkeit erforderlichen Präzision? Die Völkermordkonvention der UNO hat – so Goldhagen – ernste und lächerliche definitorische Schwierigkeiten, sie ist eine stumpfe Waffe, an der etwa die Sowjetunion mitgeschmiedet hat, deren damals noch florierender Gulag nicht zufällig außerhalb des Zugriffsrechts der Konvention stand. Bleiben wir also – ungeachtet der Unbestimmtheit der beiden Benennungen – bei den inhaltlich stärkeren Begriffen „Massenmord“ und „Eliminierung“ zur Beschreibung jeder „Massentötung, die nicht durch Kriegshandlungen hervorgerufen wurde oder sich unter den Bedingungen von Anarchie oder politischem Chaos ereignet“.

Sind die beiden Phänomene in den zahlreichen Berichten, Sachbüchern und Monografien zu den oben genannten Beispielen nicht gut erforscht? Goldhagen verneint diese Frage mit der gleichen diskursiven Energie, mit der er seinerzeit einen guten Teil der Holocaust-Forschung verwarf: Viele Forscher haben ihr Publikum in die Irre geführt und letztlich eine Apologetik der Täter betrieben – etwa indem sie Massenmorde als „ethnische Konflikte“ verharmlosten oder mit falschen Ansätzen deren Intentionalität leugneten. Massenmorde müssen zunächst als solche behandelt werden, deterministische Ansätze zu ihrer Erklärung – der Holocaust als Konsequenz der verspäteten Nationsbildung Deutschlands, das Gemetzel an den Tutsis als Folge der belgischen Kolonialpolitik – vernebeln den Umstand, dass Massenmorde regelmäßig einem vielschichtigen Schema folgen. Dieses Schema ist rekonstruierbar, angesichts der globalen Verbreitung des Phänomens allerdings nicht mit jener Präzision, die vielleicht mancher Leser einfordern wird und vor der Goldhagen in einigen Passagen seiner Darstellung meint, sie erreicht zu haben. Doch das sei ihm nicht vorgeworfen – seine Feststellung, dass der Eliminationismus ein zentrales Instrument moderner Politik sei, um das die politische Theorie bisher einen schamhaften Bogen geschlagen hat, ist richtig, und sein Buch hat auf weiten Strecken Pioniercharakter.

Stigmatisierende Kennzeichnung

Die faktenreiche Studie behandelt mit unterschiedlicher Verbindlichkeit alle bekannten eliminatorischen Vorfälle der vergangenen hundert Jahre, will aber nicht als „Geschichte des Massenmordes“ gelesen werden. Goldhagen arbeitet mit dem Mittel manchmal sprunghafter und sich wiederholender Vergleiche, er sucht und analysiert die Gemeinsamkeiten innerhalb der behandelten eliminatorischen Akte, interpretiert sie auf mehreren Ebenen und versucht, das ihnen gemeinsame Muster zu rekonstruieren. Das Ergebnis ist komplex und innerhalb der Fülle der behandelten Ereignisse nicht immer widerspruchsfrei. Vereinfacht dargestellt sind eliminatorische Akte in der Regel ein innenpolitisches Phänomen, eine von einer starken, politisch organisierten Gruppierung, häufig auch dem Staat getragene Handlung, die bewusst auf die Vernichtung einer gekennzeichneten Gruppe zielt. Die Kennzeichnung, die Bestimmung der zu Eliminierenden, ist häufig kulturell tief verwurzelt, Medien, Kirchen, Künstler und Ideologen haben sie popularisiert, Latenzzeiten – wie der Friede zwischen den Ethnien in Titos Jugoslawien – gaukeln eine illusionäre Lösung des Problems vor. Die stigmatisierende Kennzeichnung der potenziellen Opfer arbeitet in der Regel mit der Begründung von der Existenz eines scheinbar nachvollziehbaren Konflikts, eine trügerische Strategie, denn die Lösung dieses Konflikts wäre in vielen Fällen auch ohne systematischen Massenmord erreichbar.

Am Anfang eines Massenmordes steht der Transformationswille einer politischen Führung, die sich in einer krisenhaften Situation wähnt. Mit dem Hinweis auf die kulturell tief verankerte, von einer starken politischen Gruppierung oder einer Institution gestützte Bereitschaft zur Eliminierung verallgemeinert Goldhagen die zentrale These seines Holocaust-Buches: Jene nach Beendigung eines Massenmordes sich lautstark artikulierende „Zwischenschicht“ der angeblich Unbeteiligten, die nichts gewusst haben oder bestenfalls gezwungen gehandelt haben, ist recht klein.

Sicher, die Verantwortung liegt bei der politischen Führung, und es gibt keinen Massenmord, der nicht verhinderbar gewesen wäre, wenn eine andere Gruppierung an der Macht gewesen wäre. Doch die Führung agiert in der Regel langfristig zielgerichtet, und ihr künftiges Tun ist vorhersehbar: Die Eliminierung wird zunächst sinnhaft gemacht, die potenziellen Opfer werden isoliert, und ihre kulturelle Unterdrückung wird intensiviert, scheinbar sanfte vorbereitende Maßnahmen werden gesetzt, Zeugen werden zur Kooperation motiviert oder zumindest neutralisiert – doch wenn die Eliminierung mit voller Wucht einsetzt, dann liegt sie gewissermaßen im Konsens, der Täterkreis erweitert sich über die angeblichen „Fanatiker“, und selbst Frauen greifen zur Machete. Die Täter, häufig motiviert durch die Behauptung einer physischen Bedrohung durch die Opfer, handeln weitgehend risikofrei – in der Geschichte der Massenmorde ist die Zahl der von Opfern getöteten Täter eine vernachlässigbare Größe, und manche finden wir heute noch als wohlbestallte Mitglieder der politischen Elite.

Ist der Massenmord beendet, häufig durch einen Regimewechsel, eine Intervention oder eine militärische Niederlage, stellt sich die Frage, warum die Täter getötet haben. Goldhagen weist nahezu alle am Markt der Ideen gehandelten soziologischen und sozialpsychologischen Erklärungen zurück und stellt sie unter einen die Täter entlastenden Determinismusverdacht: die autoritäre Tradition, das von Goldhagen als unwissenschaftlich abgelehnte Milgram-Experiment, den unmittelbaren Zwang, den Gruppendruck oder den durch Manipulation hergestellten Glauben, dem eigenen Volk einen Dienst zu erweisen. Auch das ökonomische Motiv wird relativiert – von staatlichen Konfiskationen und kleinen privaten Aneignungen abgesehen, ist der unmittelbare Profit der Täter in der Regel gering und steht in keiner Relation zum Akt des Tötens.

Die Tätertypen, die uns Goldhagen vorstellt, sehen anders aus als in vielen populären Büchern. „Sein Eichmann“ ist keineswegs der banal-devote Bürokrat, den Hannah Arendt vor dem Jerusalemer Gericht erlebte, sondern ein selbstbewusster Mann, der sich mit seinen Taten brüstete und seinen „Fanatismus, den ein Mann von sich erwarten kann“, rühmte. Im Privatleben sind seine Täter ganz gewöhnliche Leute, beim Morden „hochmotivierte Menschen mit einem hohen Ausmaß an Eigeninitiative“. Als Täter haben sie ein reines Gewissen und handeln mit Hingabe, Bereitwilligkeit, Fantasie und Freude; es geht ihnen – auf Basis einer Weltanschauung, die die Existenz des Opfers für unerträglich hält –, ums Töten, das ihnen in vielen Fällen zum Fest wird.

Niemand von uns, so Goldhagen, ist bloßer Zuschauer eines Massenmordes, wir alle sind verwickelt. Tatsächlich: Wenn wir den Massenmord als globales Phänomen und als etwas, was mittlerweile Politik definiert, in unser politisches Denken integrieren, dann entsteht eine ebenso globale Verantwortung, ihn zu verhindern; eines jener Elementargefühle, aus denen heraus nach dem Gemetzel von Solferino das Rote Kreuz entstand. So liest sich Goldhagens Auflistung unterlassener, halbherzig oder zu spät unternommener Interventionen beschämend. Wie steht also die globale Gesellschaft heute zum Massenmord? Es gibt eine unselige historische Konstanz in der japanischen und türkischen Leugnung eliminatorischer Akte, es gibt eine Wandlung zum Besseren durch die Demokratisierung ehemaliger Täterstaaten, es gibt aber auch neue Bedrohungsfelder durch Staaten wie den Iran oder Gruppierungen wie die Hamas, in deren politischer Programmatik sich klare eliminatorische Punkte finden.

Die UNO abschaffen?

Was tun? Über Goldhagens Vorschläge zur Prävention und Verhinderung lässt sich schwer diskutieren. Er formuliert sie als Kette von Konjunktiven und hat zudem die unangenehme Angewohnheit, potenzielle „realistische“ Gegenargumente als „Zynismus“ abzutun. Er stellt klar, dass die geltenden Völkerrechtsnormen in innerstaatlichen Fragen eher dem Prinzip der Nichteinmischung folgen und dass die UNO von ihrer Geschichte und ihrer aktuellen Zusammensetzung her trotz des vom Sicherheitsrat 2006 „halbherzig und gewissermaßen beiläufig“ anerkannten Konzepts der Schutzverantwortung und der Existenz des Internationalen Strafgerichtshofes ein stumpfes Instrument darstellt.

Ohne Zweifel: Die Konstruktion einer funktionierenden, global agierenden anti-eliminatorischen Institution ist ein Langzeitprojekt, das mit Fantasie und Energie betrieben werden muss. Viele Vorschläge Goldhagens – etwa die Nutzung des Internets als globales Frühwarnsystem vor eliminatorischer Politik und eliminatorischen Politikern – sind auch zivilgesellschaftlich realisierbar und wertvoll. Doch Goldhagens in sich konsequente Schlusslösung – die Abschaffung der Vereinten Nationen und die Neugründung einer „mächtigen internationalen Institution“ – steht wohl unter Utopieverdacht.

Noch ein Wort zu dem Paukenschlag, mit dem Goldhagen sein Buch beginnt: „Harry Truman, der 33. Präsident der Vereinigten Staaten, war ein Massenmörder. Zweimal befahl er, Atombomben auf Städte abzuwerfen.“ Wir könnten „Truman und seine Taten in die gleichen Kategorien einordnen wie Hitler und den Holocaust, Stalin und den Gulag, Pol Pot, Mao und ihre Opfer . . .“ Ein wertvoller Teil des Buches besteht, gerade in der Auseinandersetzung mit laufenden Leugnungen von Massenmord, aus dem Versuch, saubere begriffliche Distinktionen zu erarbeiten. Die Debatte über Trumans schrecklichen Befehl ist durchaus notwendig, doch Goldhagen führt sie nur punktuell, und im Ganzen gesehen passt Truman wohl nicht in das von ihm gezeichnete Panorama eines anders gearteten Schreckens. ■


Die ARD zeigt am 18. Oktober als erste Fernsehanstalt den Dokumentarfilm „Schlimmer als Krieg“ mit Daniel J. Gold-hagen. Beginn 23.30 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2009)

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