Wann kennen wir einen Ort?

Wenn wir den Stadtplan zu Hause lassen können? Oder wenn wir wissen, wo im nächsten Supermarkt die Milch steht? Übers Reisen.

Wir verreisen. Wir reisen in eine Stadt, die uns vertraut ist. Wir waren, sagen wir, schon fünfmal dort. Oder zehnmal. Zwanzigmal. Wir haben uns in den Blick übers Meer verliebt, den wir von der Piazza aus haben; in das Château auf dem Hügel; in die Schleife, die der Fluss macht, bevor er träge in der Ferne verschwindet. Wir wissen, wo wir das beste Gulyás bekommen, wo im Supermarkt ums Eck die Milch steht, wie viel das Ticket für die U-Bahn kostet. Wir haben ein Stammrestaurant. Eine Lieblings-Pasticceria. Und wir können ein paar Brocken Ungarisch/Italienisch/Französisch, was auch immer: Bitte ein Viertel Liter vom offenen Rotwein. Gibt es die Stiefel auch in Größe 39? Ja, das ist alles, danke. Ich möchte bitte zahlen.

So gut kennen wir diesen Ort, dass wir den Stadtplan zu Hause lassen und die Museen links liegen. Gut, der Kirche oder dem Dom statten wir jedes Mal wieder einen kurzen Besuch ab, wir atmen auf ob der romanischen Klarheit, freuen uns an der barocken Pracht, aber sonst: Wir sind hier, um zu leben, so richtig, nicht nur Stund' um Stund', Tag um Tag. Um zu vergessen, was zu Hause auf uns wartet, was jener von uns will und dieser noch von uns braucht – und dass dieser Winter so lang ist, viel länger als andere Winter, und dabei ist es erst Jänner.

Die geschlossene Pizzeria

Das geht, weil diese Stadt bei aller Vertrautheit fremd genug ist, zu Hause und doch nicht zu Hause, wir müssen keine neue Urlaubsroutine entwickeln und sind doch fern vom Alltag mit seinen Wäscheständern und Wochenendeinkäufen. Wenn wir in diese Stadt kommen, machen wir weiter, wo wir aufgehört haben, und darum kommt es uns zuweilen so vor, als wären wir nur kurz weg gewesen. Aber das stimmt nicht. Vieles hat sich verändert. Der Feinkostladen neben der Bäckerei wurde aufgelassen, jetzt fällt uns ein: Vergangenen Winter war es da drin ziemlich kalt, sie haben wohl schon damals sparen müssen. Und als wir Pizza essen wollen, stehen wir vor einem Burger-Restaurant. Wo ist sie hin, die Pizzeria Roma? Die war doch immer voll? Wie konnte das geschehen?

Nein, sagt die Stadt: Ihr wart ein Jahr lang weg, und ihr habt keine Ahnung von den kleinen und großen Kämpfen, ihr wisst nicht, wie viel hier die Wohnungen kosten, ihr kennt nur die Zimmerpreise, und noch nie wart ihr im Vorort, wo die Straßen löchrig werden und die Gehsteige schief. Nein, sagt die Stadt: Ihr seid hier nicht zu Hause. Und es stimmt ja, und als wir zurückfahren, nehmen wir die falsche Abzweigung und werden zu einem Umweg durchs Industriegebiet gezwungen.

Nein, wir kennen ihn wirklich nicht, diesen Ort.

Egal. Wir kommen wieder.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2017)

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