Historische Kavallerie für Oughadougou

Längst beherrschen deutsche Arbeitsmigranten nicht nur die Zeitgeschichte an Österreichs Unis, sondern die Geschichtswissenschaft insgesamt. Drohen also ein "stiller Anschluss" und die "Geschichts-Germanisierung"?

Seit Gewissheit besteht, dass auch der Zeitgeschichte-Lehrstuhl in Graz in nichtösterreichische Hände fallen wird, rumort es unter den letzten eingeborenen Universitätshistorikern der Republik. Dabei ist das Problem einer als Internationalisierung verkauften „Germanisierung“ altbekannt, und die Diskussion greift inhaltlich zu kurz. Denn längst beherrschen deutsche Arbeitsmigranten nicht nur die Zeitgeschichte, sondern die universitäre Geschichtswissenschaft insgesamt. Drohen also wirklich „stiller Anschluss“ und „Geschichts-Germanisierung“?

Der Scheuklappenblick auf zeithistorische Reviere verniedlicht das Problem und schwächt die argumentative Position jener, die Österreichs historische Universitätsinstitute generell nicht als Überlaufbecken für die deutsche Privatdozentenschwemme missbraucht sehen wollen.

Dass an heimischen Universitäten immer mehr deutsche Professoren immer mehr deutsche Studenten unterrichten, ist ein Faktum. Was in medizinisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen und manchen Geisteswissenschaften aber kein sachliches Problem darstellen muss, wird in Fächern mit konkreten Raumbezügen wie der Geschichtswissenschaft nicht ohne gravierende Folgen bleiben.

Verdrängungsbeschwerden

Die rasante Eingemeindung Österreichs in die deutsche Universitätslandschaft erscheint doppelt pikant, wenn man berücksichtigt, dass die österreichische „Nationswerdung“ nach 1945 nicht zuletzt ein Produkt der Negativerfahrung deutscher Herrschaft ab 1938 und der entschiedenen Abgrenzung von Deutschland nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes war. Österreicher sein hieß lange so viel wie „nicht-deutsch sein“.

Die entnazifizierte österreichische Geschichtswissenschaft hatte daran tatkräftig mitzuarbeiten. Versuchten deutsche Historiker weiterhin, die österreichische Geschichte unter die deutsche zu subsummieren, kam es bis in die frühen 1990er Jahre zu sehr lebhaften Debatten. Heute fehlt dafür das Personal. In Wien sind beide Professuren für Neuere Geschichte, eine Professur für Geschichte und Theorie von Medienkulturen und zwei Zeitgeschichte-Professuren in deutscher Hand. Unter den drei Professoren für Osteuropäische Geschichte befindet sich gleich gar kein Österreicher. Deutscher ist auch der Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien.

Die Linzer Zeitgeschichte besetzt ebenfalls ein deutscher Wissenschaftler, auf die Grazer Lehrstühle für Neuere Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Mittelalterliche Geschichte wurden jeweils deutsche Habilitierte berufen. Jüngst erhielt ein deutscher Historiker die Grazer Professur für Digital Humanities.

Nachzügler aus der Heimat

In Klagenfurt stammen die drei Professoren für Neuere und Österreichische Geschichte, Zeitgeschichte und Alte Geschichte sinnigerweise aus dem Stamm(es)herzogtum Bayern. In Salzburg sind die Professoren für Europäische Regionalgeschichte, Europäische Zeitgeschichte und Globalgeschichte allesamt Bundesdeutsche. Die ohnedies schon seit 1984 deutsch beherrschte Innsbrucker Zeitgeschichte leitet ein (in Österreich sozialisierter) deutscher Professor auf Zeit, auch die Professur für Neuere Geschichte in Innsbruck ging kürzlich an einen deutschen Kollegen.

Zunehmend wichtig sind außeruniversitäre Forschungsreinrichtungen wie das „Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung“ der Akademie der Wissenschaften. Sein Gründungsdirektor, Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte im sehr fernen Hildesheim, wird nicht wiederbestellt. Dem Vernehmen nach ist sein Nachfolger – kein Österreicher.

Gerade in Wien ziehen deutsche Professoren außerdem verstärkt Assistenten, Projektmitarbeiter, manchmal zu versorgende Ehepartner aus ihrer Heimat nach. Angesichts der wenigen Stellen für Junghistoriker zweifellos eine Bedrohung für den autochthonen Nachwuchs. Eine wachsende Zahl deutscher Professoren führt zwangsläufig auch zur entsprechenden Durchdringung der universitären und wissenschaftspolitischen Gremien, Managementstrukturen und Gutachterklüngel. Insofern profitieren endlich auch Deutsche davon, dass in Österreich – so ein oft aus deutschem Munde zu hörender Vorwurf – persönliche Beziehungen mehr zählen als fachliche Befähigung.

Billigkräfte statt Starforscher

Oberflächliches „Staatsbürgerschaftsscreening“ mag zunächst als neonationalistische Entgleisung befremden. Dementsprechend sahen sich die Kritiker der Grazer Berufungspolitik rasch mit dem Vorwurf der Germanophobie und des Provinzialismus konfrontiert. Gewiss: Es geht immer – und gerade im Anlassfall – um handfeste Eigeninteressen, denen man bei Bedarf sogar die sonst stets im Mund geführte Inter- und Transnationalisierung der Wissenschaft opfert. Aber auch die alles schönredenden Universitätsmanager sind nicht ehrlich. Sie wollen und können nämlich keine ausländischen „Starforscher“ zukaufen, sondern werben bevorzugt „Billigarbeitskräfte“ an: verzweifelte Vertreter des deutschen Jungakademikerprekariats.

Natürlich verrät der Geburtsort nicht alles. Die Frage aber muss gestattet sein, welche Themen der zur Fachvertretung berufene akademische Lehrer zu bearbeiten willens und in der Lage ist. Bei deutschen Historikern, denen die eigene Vergangenheit wahrlich genug aufgibt, scheint die Bereitschaft, sich der Geschichte des Gastlandes zu widmen, oft geringer ausgeprägt.

„Abseitige“ Österreich-Themen

Dies hat auch karrierestrategische Gründe. Denn die Befassung mit „abseitigen“ österreichischen Themen reduziert die Chancen im Lehrstuhlhopping, das nach vielen Jahren der Wochenendbeziehungen idealerweise wieder Richtung Heimat und Familie führen soll.

In Graz erklärte das Rektorat einen historischen Zentraleuropaschwerpunkt denn auch für zu eng und beschwor die Gefahr der Nationalisierung. Gerüchten zufolge soll an der Universität Wien das Fach „Österreichische Geschichte“ mit Anerkennungsproblemen seitens des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Dekanats kämpfen. Lieber Allerweltsgeschichte im Gewand der Globalgeschichte.

Solche Ortlosigkeit scheint als marktgängige Antwort auf den Globalisierungsdiskurs nur folgerichtig. Sie ist aber mehr noch vor dem Hintergrund des Kompetenzwahns im modernen Bildungswesen zu sehen, in dem Pädagogik, Didaktik und Gesellschaftspolitik das konkret Fachliche marginalisiert haben. So konnte sich im postfaktischen Zeitalter auch die Geschichte von den einst „unhintergehbaren“ Grundkoordinaten – Raum und Zeit – und aus der früheren Quellenbindung befreien. Eine vielversprechende Maßnahme zur Arbeitsmarktflexibilisierung!

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Dr. Michael Hochedlinger
(* 1967) ist Historiker und
Fellow of Sidney Sussex College Cambridge. Von 2008 bis 2012 war er Lehrbeauftragter am Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien. Publikationen u. a.: „Austria's Wars of Emergence“ (2003), „Aktenkunde“ (2009) und „Österreichische Archivgeschichte“ (2013). [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2017)

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