Der saubere Mörder

„Hitlers Arzt Karl Brandt“: eine Dokumentation über Medizin und Macht im Dritten Reich – und ein sehr realer Arztroman.

Das Leben des Karl Brandt liest sich wie ein schrecklicher Arztroman. Es ist aber kein Roman, keine finstere Zauberberg-Geschichte. Der Medizinhistoriker Ulf Schmidt referiert uns in „Hitlers Arzt Karl Brandt“ eine vergange- ne, bittere Wirklichkeit.

Ist alles vorbei und vergangen? In Vielem erkennt man beim Lesen viel Kontinuität und wenig Bruch zwischen damals und heute. Das handfeste Töten in Anstalten ist vorbei. Deutliche Spuren von Selektion, Isolation, von österreichischem Rassenwahn lassen sich aber unschwer im republikanischen Gesundheitssicherungssystem, im Diskurs über Zuweisungen und Zumutungen erkennen.

Der Arztroman: Am Ende des Medizinstudiums wechselt der im Elsass heranerzogene Idealist Karl Brandt vom religiös-sozialen Milieu seiner Umgebung zur Ethik eines Albert Schweitzer, zum Schutz des Lebens als Prinzip ärztlichen Handelns. Es ist ein kurzes Gedankenspiel. Real entscheidet sich Jungarzt Brandt für Adolf Hitler, wechselt radikal die Fronten. Albert Schweitzer will die Menschen von ihren aufgezwungenen Leiden, dem Elend, den Krankheiten befreien. Hitler will das für ihn sinnlose Leiden, das unnütze Leben durch gewaltsam verabreichten Gnadentod auslöschen. Er nennt das Erlösung.

Karl Brandt, bald zum Begleitarzt Hitlers aufgestiegen, wird Ende 1939 vom Führer ermächtigt, zusammen mit Reichsleiter Bouhler die systematische Euthanasie zu organisieren. Der auf Rettung des Lebens trainierte Unfallchirurg Brandt wechselt in die schnelle und heimliche Beseitigung von bürokratisch festgelegten lebensunwerten Existenzen. Schwer fiel ihm der Wechsel in die ärztlichen Todesschwadronen nicht. Einer seiner Lehrer an der Universität, der Psychiater Alfred Hoche, verfasste 1920 zusammen mit dem Juristen Karl Binding den Traktat „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Deutsche Psychiater riefen zur Reinigung des „Volkskörpers“ auf. Brandt machte mit.

Das Leben am Hofe Hitlers brachte Brandt nach oben. Zuerst Generalkommissär, dann Reichskommissär für das Sanitäts-und Gesundheitswesens. Er ist nun berechtigt, allen Organisationen des Staates, der Wehrmacht, der Nazipartei Weisungen zu erteilen. Augenblicklich war damit der Ohrenbläser und Karrierist aus dem Führerhauptquartier umstellt von den Ausgebremsten aus Wehrmacht und Partei, den Neidern. Intrigen nahmen ihren Lauf.

Fast nebenbei ließ Brandt ab 1939 Zehntausende Hilfsbedürftige, Kinder, Greise, Geisteskranke markieren, einsammeln, ermorden. Er tolerierte wahnwitzige Menschenversuche in den Konzentrationslagern,ordnete solche an. Je näher der sichere Untergang des Tausendjährigen Reiches rückte, desto grausamer wurde das Morden an der Heimatfront und in den Lagern. Brandt war der rasende Todesengel.

Gnadengesuch von Sauerbruch

Plötzlich ein Streit zwischen Hitlers Leibarzt Morell, einem Quacksalber, und dem Begleitarzt Brandt. Der entdeckte beim Führer Anzeichen einer Strychninvergiftung, verursacht durch die von Morell verordneten „Dr. Kösters Antigaspillen“, eine Art medizinischer Leibspeise Hitlers, der sie handvollweise vertilgte. Er litt, dauerhaft und heftig, an Blähungen, üblem Mundgeruch, Verdauungsbeschwerden. Er schwor auf die strychninhältigen Antigaspillen. Er stellte sich voll hinter den Quacksalber und glaubte den alten Parteigenossen Goebbels, Göring, Bormann, allesamt Feinde des Quereinsteigers Brandt. Am 16. April 1945 wird der treue Begleitarzt festgenommen, vor ein Standgericht gestellt und wegen Führerverrat, Vaterlandsverrat, Familienverrat zum Tode verurteilt. Der geblähte Hitler unterzeichnet den Hinrichtungsbefehl, die Intrige schien erfolgreich abgeschlossen.

Brandt hat Glück. Hitler selbst war tot, bevor sein Urteil vollstreckt wurde. Am 2. Mai kommt er in Freiheit, am 23. Mai wird er erneut festgenommen, diesmal von den Alliierten. Und diesmal gab es kein Entkommen. Er wurde am 20. August 1947 im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und am 2. Juni 1948 gehängt.

Von der Verhaftung bis zur Anklage vergingen zwei Jahre. Brandt verlegte sich zuerst auf das große Leugnen. Wenig gewusst, nichts getan. Als die Beweise gegen ihn offenlagen, bekannte er sich zur Euthanasie als Prinzip, als Erlösungsprinzip durch den Erlöser Hitler. Mit der Organisation und Durchführung wollte er aber nichts zu tun haben. Das waren andere, raue und rabiate Nationalsozialisten, die leider oft falsch und fahrlässig handelten. Er war ein sauberer Nazi, trotz aller Titel unbedeutend, immer nur ein „Differenzial“ zwischen oben und unten, zwischen Wehrmacht und Zivilbevölkerung. Macht hatte nur Hitler, dem er freilich diente. Er bestritt auch sein Mitwissen an den Menschenexperimenten in den Konzentrationslagern. Als ihm sogar Mitarbeit nachgewiesen wurde, verteidigte er wiederum das Prinzip Menschenversuch, das er, auch ohne Einverständnis der Versuchspersonen, für richtig und gerechtfertigt hielt. Das bringe Fortschritt, könne Tausenden an der Front das Leben retten. Einer für alle, ob er will oder nicht.

Allmählich dämmerte ihm, als Rangoberstem unter den 23 Angeklagten, die Aussichtslosigkeit seiner Rechtfertigungen, die keine waren. Er verfiel in deutschen Weltschmerz, kritzelte Goethe an die Gefängnismauer: „Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz: alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“

Bald erfand er sich neu, als Held und Botschafter einer großen Zeit mit hehren Idealen: gesunder Volkskörper, reines Blut, Ausmerzung alles Krankhaften, Untüchtigen, Ungermanischen. Er sah sich als Opfer, wollte sich opfern. Mit seiner Frau und seinem Sohn Karl schloss er neue familiäre Bande, war nun guter Gatte und guter Vater. Er wurde zum großen Brief- und Tagebuchschreiber. Er verfasste Denkschriften über die Luftfahrtmedizin, das Schwesternwesen, familiäre Maßnahmen, Gesamtgesundheitszustand, Problem Hitler 1 und 2, die Hitlerlegende. So wollte er sich bei den Anklägern mit seinen Erfahrungen anbiedern.

Er wunderte sich über das große öffentliche Interesse an seiner Person, beklagte sich über die Allgegenwart der Weltpresse. In den elf Jahren an der Seite des Führers gab es keine Öffentlichkeit, wurde verlautbart. Er zerteilte sich selbst in den privaten, untadeligen Karl Brandt und den nun öffentlich ausgestellten Nationalsozialisten, dem der Schauprozess gemacht wurde. Als er am 2. Juni 1948 gehängt wurde, hielt er, vor dem Galgen stehend, eine letzte Opferrede. Macht wolle immer Opfer. Da sprach er, der Tausende geopfert hatte, aus Erfahrung. Er opfere sich nun der Weltmacht. Dann Abschied von den Eltern, dem Sohn, seiner Frau. Tod durch Erhängen in Landsberg. Hitler hatte dort 1924, in Festungshaft, „Mein Kampf“ geschrieben.

Zwischen Urteil und Vollstreckung hat sich Brandts Frau um Gnadengesuche bemüht. Kirchenkreise, 26 angesehene deutsche Wissenschaftler – darunter der große Chirurg Sauerbruch – und sogar Alexander Mitscherlich plädierten für Gnade. Sauerbruchs Argument: Hitler erzwang das Böse im guten Arzt Karl Brandt. Die Gnade wurde nicht erteilt.

Im Jänner 1951, berichtet Historiker Ulf Schmidt, demonstrierten 3000 Bürger von Landsberg für ein „Ende der Hinrichtungen“. Es kam zu einer Gegendemonstration von 300 Juden, Insassen eines nahen Lagers mit Displaced Persons. Der Bürgermeister von Landsberg forderte die Juden auf, sie sollten zurückkehren, woher sie gekommen seien. In die Konzentrationslager? Die Landsberger jubelten.

Was zwischen 1933 und 1945 die Überzeugung einer großen Mehrheit war, ließ sich nicht so rasch beseitigen wie das Mordregime. Damals galt: Der Einzelne, das Individuum ist wertlos. Der Einzelne fällt an der Front oder wird, weil unbrauchbar, in Anstalten liquidiert. Das deutsche Volk lebt ewig weiter. Die Judenrasse vergiftete das deutsche Blut, musste, unter ärztlicher Aufsicht, ausgerottet werden. Behinderte wurden zwangssterilisiert oder liquidiert, damit konnte man die Zahl der unnützen Esser reduzieren. Das war gängige NS-Gesundheitsökonomie. Später, nach Stalingrad, als daheim und an der Front die Lazarette randvoll mit Verwundeten, Kriegsopfern und Kriegskranken waren, wurde das gewaltsam von Brandt und seinem Gefolge entleerte Anstaltsbett ein kostbares Gut. – Beim Eintopfessen mit Hitler wurden in der Reichskanzlei die Erfolge an der Heimatfront besprochen: 40.000 Umgebrachte kann Brandt melden, weitere 60.000 „müssen noch weg“. Man tut, was man kann.

Ärzte trafen sich und besprachen, wie und wo man am schnellsten den Mord an Pflegepatienten organisieren könnte. Sagten oder schrieben sie „Behandlung“, meinten sie: vergiften, vergasen, verhungern lassen. In einem Tresor in Hartheim bei Linz fand man ausgewertete Statistiken der Tötungsexperten von Berlin. Im Jahre 1941 hatte man 70.273 Personen „desinfiziert“, umgebracht. Gesundheitsökonomische Prognose der Experten: Bei fortgesetztem Anstaltsmorden könnten so 885,439.980 Reichsmark gespart werden. Das waren, umgerechnet für den völkischen Hausverstand, 13,492.440Kilogramm Fleisch oder Wurst. Da lachte das NS-Weißwurstherz.

„Wilde Euthanasie“ nach 1945

Hitler und Brandt war vom Tag der Ermächtigung zur Euthanasie an klar (1. September 1939), dass der Mord an den Hilflosen geheim organisiert werden musste. Die Lehre vom gesunden Volkskörper und den kranken Minderwertigen war nur in den Köpfen von Ärzten, Psychiatern, Juristen fest verankert. Nichts durfte Richtung Reichskanzlei deuten, wenn Angehörigen eine falsche Urne des auswärts behandelten Kindes zugestellt wurde. Daher die Tarnorganisation T-4, wo alle leitenden Mordgesellen sich Tarnnamen zulegten: Jenerwein, Brenner, Hinterthal.

Geheim blieb nichts. Das Morden war zu groß, hatte zu viele Mitwisser. Schon 1940 meldete der Vatikan Verlegungen und Vernichtungen von Patienten aus einer Anstalt in Wien. Papst Pius XII. verurteilte öffentlich das Euthanasieprogramm Hitlers. Ein Briefwechsel deutscher Bischöfe mit dem NS-Regime setzte ein. Am deutlichsten äußerte sich der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, Angehöriger des Jesuitenordens, in einer Predigt vom 3. August 1941: „Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden, wehe den Invaliden, wehe unseren braven Soldaten, die als schwer Kriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren.“

Krieg ja, Euthanasie nein. Doch die katholische Halbherzigkeit, gepredigt in Münster, verlesen von allen Kanzeln der Diözese, wirkte. Hitler musste zwischen 1941 und 1943 das Anstaltsmorden drosseln. In den Anstalten hatte sich aber längst, ausgeübt noch lange nach 1945, die „wilde Euthanasie“ festgesetzt. Das Verhungernlassen und das Vergiften und das Fälschen von Krankengeschichten und das Belügen von Angehörigen wurde einfach ohne Zustimmung der Obrigkeit als eine Art der Behandlung beibehalten.

Wer garantiert uns, dass das nicht wiederkehrt? Hierzulande hat man ja nicht einmal dagegen gepredigt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2009)

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